Während seiner Lehrjahre in Italien, dem Kunstland seiner Zeit, kopierte Peter Paul Rubens in sein Skizzenbuch einzelne Gliedmaßen von Figuren aus Meisterwerken seiner Lehrer. Zuhause fügte er diese dann in seine eigenen Gemälde ein, wobei die Übernahmen sich in perfekte Rubensgemälde verwandelten. Man hätte das mit dem neuen Begriff „Appropriation Art“ bezeichnen können, Aneignungskunst. Als Plagiat galt derlei damals nicht, eher als ehrfürchtige Verneigung vor den Meistern. Heute sind solche „Anleihen“ zu einem eigenen Trend in der zeitgenössischen Kunst geworden. Die Kunsthalle Tübingen zeigt das Comeback der großen alten Meister in der Kunst von heute.
Wer sich in der Kunst der Renaissance auskennt, dürfte bei diesem Gemälde stutzen. Der Wald kommt einem bekannt vor, aber es fehlt etwas, genauer, die Hauptsache. José Manuel Ballester hat Sandro Botticellis Gemälde Primavera neu gestaltet, allerdings ohne die Liebesgöttin Venus, ohne Nymphen und allegorische Frauenfiguren. Es bleibt der Wald, gewissermaßen die Szenerie, das Bühnenbild, die Handlung fehlt – beziehungsweise, sie fängt an, vor dem geistigen Auge wiederzuerstehen. Dasselbe kann man vor der Version erleben, die Ballester aus dem Garten der Lüste von Hieronymus Bosch hergestellt hat; hier fehlen die skurrilen Fantasietiere, die diesen Garten auf dem Original bevölkern. Ballester greift Werke der Kunstgeschichte auf und regt uns zur kreativen Weiterarbeit an. Das ist mehr als nur ein Sichaneignen alter Kunsttraditionen, das ist zugleich Aktivierung des Betrachters, und genau das schaffen zahlreiche Künstler in dieser Ausstellung.
Dass alte Gemälde Künstler von heute inspirieren, ist nicht neu, seit den 70er Jahren gibt es diese „Appropriation Art“, also eine Kunst der Aneignung, ja Anverwandlung, doch das, was in der Kunsthalle Tübingen zu sehen ist, ist großenteils ein sehr viel raffinierteres Spiel mit Anspielungen. Arbeitete Ballester mit einer Reduzierung, so geht Ciprian Mureşan umgekehrt vor. Er hat aus einem Werk über El Greco oder Giotto alle Abbildungen auf jeweils ein großes Blatt gezeichnet. Auf diesen Wimmelbildern sieht man gewissermaßen vor lauter Kopien das Original nicht. Das heißt: Alles ist da, und doch nahezu unkenntlich.
Slawomir Elsner ließ berühmte Gemälde der Kunstgeschichte neu erstehen, indem er sie mit lauter exakten Strichen nachbildete. Das Resultat sind extrem unscharfe Bilder, die nur noch Farbvaleurs wiedergeben. Nicht immer wird man da sofort das Urbild erkennen, doch bei dem Bild mit den Blau- und Rottönen muss es sich um ein Marienbildnis handeln, in diesem Fall Raffaels Madonna im Grünen. Auch Da Vincis Dame mit dem Hermelin ist vertreten. Ähnlich wie Ballester lässt also auch Elsner Wesentliches weg – und verführt den Betrachter zum ästhetischen Ergänzen und Weiterdenken.
Dieses Weiterdenken kann zu völlig neuen Kunstformen führen. So hat Liza Lou aus Massacios Deckenfresko Vertreibung aus dem Paradies in der Cappella Brancacci in Florenz die Figuren von Adam und Eva isoliert und in große Skulpturen verwandelt. Damit hat sie das Gegenteil von dem getan, womit Ballester arbeitet. Der hatte die Figuren entfernt und das Setting stehen lassen, Lou verzichtet auf das Setting und stellt nur die Figuren aus. So wird bei ihr Massaccios Thema noch allgemeingültiger, denn nach biblischer Darstellung hat die Vertreibung aus dem Paradies zwar gravierende Folgen für die ganze Menschheit, bei Lou aber wird aus der konkreten Bibelszene ein Bild existentieller Verzweiflung.
Dasselbe Motiv verbindet Brigitte Maria Mayer mit der Zeitgeschichte, indem sie das Paar vor den Trümmern der rauchenden Türme von 9/11 platziert. So führt die Auseinandersetzung mit der Kunst von gestern zu brennenden Fragen unserer Existenz heute.
Eine Aneignung alter Kunst auf einer eher formalen Ebene findet sich bei Ged Quinn, wobei auch er Elemente von heute einfließen lässt. Sein Stillleben nach alter Manier enthält auch Szenen aus einer Zauberschau mit Hypnose, eine Trümmerszene von heute und inmitten des Blumensdekors einen Totenschädel. Damit greift er unmittelbar das Memento mori der Gattung Stillleben auf, die ja im Französischen Nature morte heißt, „tote Natur”. Ähnlich spielt Pia Maria Martin in Videos mit dem Genre, indem sie eine solche „tote Natur” wieder zum Leben erweckt – ein ironisches Spiel mit traditionellen Formen.
Das gelingt auch Jochen Flinzer. Er zeichnet berühmte Motive der Kunstgeschichte mit dem Stickfaden nach. So reduziert er Gemälde auf Zeichnungen mit bloßen Strichen, spielt zudem mit Fragen der Gegenwart, Genderfragen zu Beispiel, denn als Mann greift er zu einer Handarbeitsform, die man eher mit Frauen assoziiert, und Adam und Eva erscheinen bei ihm als gleichgeschlechtliches Paar. Auf der Rückseite dieser „Stickzeichnungen” kann man das „Making of” dieser Stickereien nachvollziehen, und siehe da, die figürlichen Darstellungen wurden dabei zu abstrakten Stricheleien.
Man kann sich allerdings auch einfach selbst mit den Inhalten alter Kunst identifizieren. Cindy Sherman hat ihr Gesicht nach alten Bildvorlagen modellieren und fotografieren lassen – mit leichter Überzeichnung. Philip Akkerman hat sein Gesicht einem Bildnis früherer Jahrhunderte anverwandeln lassen. Sehr viel raffinierter ist da das Gemälde, mit dem der Afroamerikaner Kehinde Wiley Raffaels Bild mit den drei Grazien neu interprertiert: mit drei schwarzen jungen Männern, die grüne statt rote Äpfel in Händen halten, und das vor einem Hintergrund aus in Afrika beliebten Wachstüchern. So eignet sich ein Afrikaner die Kunst der Völker an, die sich in früheren Jahrhunderten seine Heimat angeeignet haben.
Dieses Nachstellen berühmter Gemälde mit dem eigenen Körper ist inzwischen in den Tableaux vivants zu einer Art Volkssport geworden, von dem sich im Internet zahlreiche Fotografien finden. Christian Jankowski hat einige davon von chinesischen Kunstmalern auf Leinwand nachmalen lassen. So wurden die echten Gemälden nachgestellten Tableaus wieder zu echten Gemälden, denen man freilich „Fehler” deutlich anmerkt. Der Tote auf Jacques-Louis Davids Gemälde Der Tod des Marat ist hier eine Frau mit modisch gewickeltem Turban, deren linke Hand auf der Tastatur eines Laptops ruht.
Das ist witzig, doch ob man von diesen Remakes von „Remakes” so viele in die Ausstellung aufnehmen musste, ist fraglich. Auch die mit roten Nasen versehenen Figuren in alten Gemälden, wie sie Hans Peter Feldmann gestaltet, kommen über die Ebene eines Ulks kaum hinaus.
Doch das sind geringfügige Einwände bei einer Ausstellung, die subtil und vielschichtig die Kunst von gestern mit Mitteln von heute befragt, wie es eben Ballester tut. Seine Nachbildung von Goyas Erschießung der Aufständischen lässt von dem grausigen Tötungsakt nurmehr die Blutspur am Boden übrig – und macht so das an sich schon erschreckende Original noch grausamer.
„Comeback. Kunsthistorische Renaissancen”, Kunsthalle Tübingen bis 10.11.2019. Katalog 162 Seiten