Das Kunstwerk ordne Farben und Formen nebeneinander an, so befand Gotthold Ephraim Lessing 1766, im Gegensatz zur Dichtkunst, deren Worte nacheinander folgten. Dichtung sei also Zeitkunst und könne daher Handlungen darstellen, bildende Kunst dagegen nur Gegenstände. Diese Auffassung hat bis heute durchaus Geltung, „Leben“ erhält demnach ein Kunstwerk erst im Geist des Betrachters, in dessen Deutung. Doch seit Beginn des 20. Jahrhunderts begann die Kunst, sich zu bewegen, sei es durch Lichteffekte, sei es durch Motoren. Die von Lessing konstatierte Beschränkung war aufgehoben. Das Museum Ritter führt nun vor, was dabei „Bewegung“ alles sein kann – natürlich, wie stets in diesem Museum, im Quadrat: „Squares in Motion“.
Man hat den Eindruck, hier rase ein Wirbelwind über die Wand und bringe lauter Farbtupfer in rasante Bewegung – oder hat sich der Wind schon gelegt, und wir sehen nur das chaotische Ergebnis seiner Verwüstung? Achim Zeman hat auf einer Wand im Museum Ritter das Kunstwerk zustande gebracht, ein Höchstmaß an Bewegung zu evozieren, ohne dass sich dabei etwas auf der Wand bewegt. Die rötlichen Teile sind nur so raffiniert geformt, als seien sie in Rotation.
Aber natürlich gibt es auch echte Bewegung in dieser Ausstellung. Sebastian Hempel zum Beispiel hat weiße Quadrate übereinander geschichtet und bringt sie mittels eines Motors um eine Achse in Bewegung. Das Ergebnis ist ein scheinbar ungeordnetes Hin und Her – bis, wie durch Zauberhand, plötzlich die Quadrate als perfekte Säule dastehen, aber nur für wenige Sekunden. Das ist ein Sinnbild zur Frage: Wie stabil ist absolutes Gleichmaß, wie sicher geometrische Harmonie.
Michael Danner arbeitet mit Spannung, der er Metalldrähte aussetzt. Zwei Quadrate bilden die Grundform, in den dazwischen gespannten Drähten aber entsteht ein Wogen und Schweben, das nicht enden will: Ein Versuch, aus der starren Ordnung auszubrechen, die einen doch gefangenhält. Man kann sich ganze philosophische Romane vor solchen Arbeiten ausdenken.
Bei Hans Schork glaubt man in den Nachthimmel zu schauen, über den Sterne huschen, die gelegentlich sogar wie Meteoriten zu verglühen scheinen. Hergestellt ist das ganz schlicht. Auf der hinteren Ebene rotieren Lichtquellen, nach vorne ist der Kasten mit einer schwarzen Scheibe abgedeckt, in der lediglich dünne Ritzen das Licht durchlassen. Das ist optische Poesie pur.
Manchmal freilich hat man den Eindruck, es gehe wirklich nur darum, bewegte Objekte zu schaffen. Auch interessant, hübsch anzusehen, doch nicht von der gedanklichen Tiefe wie bei den zuvor erwähnten Arbeiten.
Einen ganz anderen Aspekt bringt Heinz Mack in seine Arbeit. Er hat gleich zwei Bewegungstypen in seine Arbeit integriert. Eine Aluminiumscheibe und Lampen bilden den Hintergrund, davor befindet sich eine große Linse. Bewegt sich die Scheibe, gerät das Bild in Wallung. Aber es bedarf gar nicht der motorischen Bewegung. Auch wenn die Arbeit nicht in Aktion ist, scheint sie sich zu verändern, man braucht nur ein paar Zentimeter nach rechts oder links zu gehen.
Denn auch das ist Kunst in Bewegung, wenn der Betrachter durch seine Bewegung den Bildern Veränderung beschert. Gerhard Frömel beispielsweise hat zwei Aluminiumbleche auf einer Seite schwarz bemalt, auf der anderen blau, und sie so raffiniert gefaltet, dass sie wie Faltmappen aussehen und sich zu öffnen bzw. zu schließen scheinen, man muss nur vor ihnen auf und ab gehen. Ist die Mappe offen oder geschlossen? Was heißt das für mein Verhältnis zum Kunstwerk? Inwiefern wird die eigene Sehperspektive zum kreativen Moment? Wer erschafft hier das Kunstwerk – der Künstler oder der Betrachter?
Das gilt auch für Arbeiten, die einen ähnlich variierenden Effekt durch aufgebrachte Lamellen bewirken wie die Arbeiten von Carlos Cruz-Diez. Oder die Künstler erzielen durch eng gezogene Linien einen Moiré-Effekt. Vor solchen Bildern, die doch eigentlich nur aus starren Linien bestehen, gerät man unversehens ins Taumeln.
Wenn man sich vor den Hohlspiegelobjekten von Adolf Luther bewegt, dann wird man selbst Teil des Kunstwerks und verändert schon mit wenigen Zentimetern jeweils die einzelnen Bilder, aus denen die Arbeit besteht. Wo ist die Grenze zwischen Kunstobjekt und betrachtendem Subjekt? Hier verschmelzen beide miteinander.
Aber wie die Arbeit von Achim Zeman gezeigt hat: Es muss sich gar nichts bewegen, weder das Kunstwerk noch der Betrachter. Victor Vasarely war ein Meister in der Gestaltung solcher Bilder, die wirken, als wölbten sie sich vor. Doch das alles ist nur das Werk von genau geplantem Spiel mit den gemalten Formen.
Bei Johannes Geccelli scheinen Quadrate auf der Wanderschaft zu sein, er gibt selbst im Titel die Hinweise – etwa: „Steigt aus dem Bild“, oder „Fällt aus dem Bild“ oder „Noch nicht im Bild“. Hier sorgen gleich zwei Instanzen für den Eindruck von Bewegung auf den Bildern: das Raffinement der Gestaltung – und die Fantasie des Betrachters.
„Squares in Motion. Kinetische Kunst aus der Sammlung Marli Hoppe-Ritter“, Museum Ritter bis 28.4.2019