Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit beginnt in einem Zwischenreich, dem Zustand zwischen Schlafen und Wachen, dem Dösen, in dem Traum- und Lebenswelt sich seltsam mischen. Man könnte auch sagen: Marcel Prousts Roman beginnt mit einer Einführung in das Wesen der Kunst, die ja auch mit den Elementen unserer Alltagsrealität arbeitet, aber zugleich Räume schafft, die weit darüber hinausgehen, entweder in Visionen oder in das Innere des Ichs. Diesem seltsamen Schwebezustand kann man in der Städtischen Galerie Villingen-Schwenningen anhand zweier Künstler begegnen, die zwar aus unterschiedlichen Lebenswelten stammen – Deutschland und Slowenien – die auf ihren Bildern aber durchaus ähnliche Grenzsituationen entwerfen.
Auf den ersten Blick scheint alles ganz normal. Zwei Männer sitzen sich gegenüber in einem Zimmer in einer ärmlichen Hütte. An der Zimmerwand hängt ein sauberes weißes Hemd, eine Tür ist halb geöffnet – aber hier beginnen bereits die Fragen: Führt sie in einen Keller, in das Dunkel der Nacht oder doch eher ins Nirgendwo, denn ein genauerer Blick auf dieses Bild von Mandy Kunze macht deutlich, dass hier nichts stimmt. Der Ausblick auf eine Stromleitung und eine Art Förderturmanlage ist nicht ein Blick durch ein Fenster: Hier öffnet sich vielmehr der Innenraum und verschmilzt mit dem Außenraum. Der Mann in der Mitte scheint noch von dieser Welt, sein Gegenüber wirkt eher wie der Tod und scheint aus den Tiefen eines Meeres zu kommen. Alles wirkt vertraut in diesem Bild, bis hin zum angedeuteten Ziffernblatt, aber nichts lässt eine alltägliche Deutung zu.
Ähnlich verhält es sich mit den Bildern von Mitja Ficko. Pause heißt ein großes Bild von 2018. Da überall auf dem Bild Elemente wie von einer großen Baustelle zu sehen sind, könnte man an Arbeitspause denken. Aber was wird hier gebaut? Ein Haus gewiss nicht, eher hat man den Eindruck, als werde hier die Welt mit Brettern vernagelt. Und schon befinden wir uns in einem eher alptraumhaften Raum, in dem wie bei dem Bild von Mandy Kunze nichts mehr sicher ist, obwohl man auf den ersten Blick meinen könnte, alles genau zu kennen und zu erkennen.
Beide Künstler bauen ihre Bilder aus Versatzstücken auf, die einzeln genommen sinnvoll erscheinen, zusammen aber Rätsel aufgeben. Dazu tragen auch die Titel bei. Fair Game heißt ein Bild von Mandy Kunze. Das kann übersetzt heißen: Gerechtes Spiel, doch das will zu dieser Szene nicht recht passen, die offenbar in einer riesigen Scheune angesiedelt ist, in der sich links eine Familie aber offenbar wohnlich eingerichtet hat. Game kann im Englischen auch Wild bezeichnen, wozu wiederum der Vierbeiner in der rechten Bildhälfte passen würde, der wie ein Wolf aussieht, aber vielleicht doch nur ein harmloser Schäferhund ist. Diese Bilder von Mandy Kunze sind Traumwelten, die Ängste heraufbeschwören – wegen der Kombination heterogener Elemente und wegen der Atmosphäre, die unwirklich erscheint, weil nichts in ihr zusammenpassen will, wie in einer Traumsequenz.
Ähnlich enigmatisch sind auch Mitja Fickos Bilder. Warum schreiten vor einer seltsam künstlich wirkenden Wand Flamingos einher, als sei es das Natürlichste der Welt. Was sind das für technoide Elemente, die der Bauer im Wald von seinem Traktor ablädt. Was beabsichtigen die Vögel, die auf einem LKW mitfahren, auf dem lange Baumstämme transportiert werden. Trauern sie dem Wald nach, also ihrer Lebenswelt, die da abgeholzt wurde, oder suchen sie eine neue Bleibe?
Unwirklich erscheinen die Bilder auch, weil beide Künstler trotz der vielen erkennbaren Elemente aus der realen Welt letztlich mit abstrakten Mitteln arbeiten. Vor allem Mandy Kunze geht in ihren neuesten Bildern weitgehend von reinen Farbimpressionen aus, die nicht selten an Wasser denken lassen. Das kann dann Welle heißen oder Fishermens Friend. Doch ohne Anklänge an die uns vertraute Welt bleibt es auch hier nicht. Da findet sich plötzlich ein altes Fahrrad, eine Schranke, mit der man Wege versperren kann. Und auch bei Mitja Ficko taucht plötzlich in einem mit Mondschein betitelten Bild ein weißes Quadrat – also ein abstraktes Bildelement – auf, das mit den übrigen Bildteilen nichts zu tun hat. So machen diese Bilder deutlich, dass Welt auf der Leinwand grundsätzlich erst einmal reine Malerei ist, aus der sich dann Assoziationen entwickeln können, und die sind gelegentlich abenteuerlich wie ein Thriller. Kriminelles Element nennt Mandy Kunze eines ihrer neueren Bilder. Zu sehen wieder einmal eine Art Meeresfläche. Vorn scheint ein größerer Gegenstand ins Meer gestürzt zu sein – das kriminelle Element? Oder ist das eigentlich Kriminelle am Himmel zu finden, wo sich seltsam unnatürliche helle Linien kreuzen. Kunst kann Fragen beantworten, sie kann aber auch Fragen stellen, in diesem Fall sind die Bilder selbst Fragen: Fragen nach der Realität der Welt, dem Wesen des Traums und dem Phänomen Malerei.
„Die Unfassbarkeit der Dinge. Mitja Ficko. Mandy Kunze“. Städtische Galerie Villingen-Schwenningen bis 28.4.2019. Katalog 71 Seiten, 15 Euro