Ein Tag wie jeder andere: Rachel fährt mit dem Zug zur Arbeit, vorbei an den Wohnsiedlungen entlang den Bahngleisen, und beobachtet dabei tagaus, tagein ein Ehepaar. Die beiden machen auf sie einen sympathischen Eindruck, und in ihrer alltäglichen Langeweile auf dem Weg zur und von der Arbeit denkt sie sich für die beiden Gestalten, die sie sieht, aber nicht hört, Biographien aus: Geschichten eines Ehepaares, sie nennt die beiden Jess und Jason. Das könnte der Anfang eines Romans über eine werdende Schriftstellerin sein, die am Ende aus dem Alltag erfolgreiche Literatur bastelt. Und genau dieser Wechsel von „könnte sein“ und „ist es nicht“ bestimmt den Fortgang dieses Buches, der beginnt wie das Psychogramm einer gescheiterten jungen Frau im Großstadtdschungel von London.
Lange Zeit bleibt der Eindruck eines Psychogramms: Rachel, so erfahren wir, ist einsam, wohnt zur Untermiete bei einer Freundin, ist geschieden, wohnte selbst einmal mit ihrem damaligen Mann Tom in einem der Häuser an den Bahngleisen – und kommt von ihrem Exmann immer noch nicht los. Sie drangsaliert ihn mit Anrufen, mischt sich in seine neue Ehe mit Anne ein – aus dem Psychogramm einer jungen Frau in der Großstadt wird unversehens die Krankengeschichte einer Psychopathin, die zunehmend dem Alkohol verfällt.
Doch dann verschwindet die Frau, der Rachel den Namen Jess gegeben hat, und aus dem Roman um Rachel wird ein Krimi um Megan, so der eigentliche Name der Frau, wie alsbald den Polizeiberichten in der Presse zu entnehmen ist. Paula Hawkins stürzt den Leser in ein Wechselbad der Gefühle. Hatte der anfangs noch Sympathie mit Rachel, relativieren sich diese Gefühle, zumal Rachel nun meint, dem allein gelassenen Ehemann – und, wie sich bald herausstellt, Witwer, denn Megan ist einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen – ihren Trost zukommen lassen zu sollen. Auch bleibt Rachels Sicht nicht die einzige Perspektive, durch die dem Leser das Geschehen nahegebracht wird. In Rückblicken verfolgen wir, was vor dem Beginn des Romans geschah, auch aus der Perspektive von Megan, schließlich noch aus der von Toms neuer Ehefrau Anne.
Alle Figuren offenbaren ungeahnte Tiefen: Megan hatte ein Verhältnis mit ihrem Psychoanalytiker, war in ihrer Jugend aus ihrem Elternhaus ausgerissen, hatte ein Kind, das durch einen Unglücksfall ums Leben kam. Anne wiederum fühlt sich zunehmend bedroht von Toms ehemaliger Ehefrau Rachel und drängt ihren Mann, endlich einen Schlussstrich zu ziehen. Und auch Tom ist nicht der zartfühlende Saubermann, als der er anfangs erschien. Alle Figuren entpuppen sich als vielschichtig, und – je mehr man meint, über sie erfahren zu haben – doppeldeutig und undurchsichtig.
Paula Hawkins hat auf raffinierte Weise Großstadtroman, Beziehungskrisen, Kindheitstraumata und Krimistrukturen zu einem Ganzen verquickt, das alle Ingredienzien so nahtlos miteinander vereint, dass man für diesen Roman einen ganz neuen Genrebegriff finden müsste. Zudem hat sie auf spannende Weise eine Geschichte um die Perspektivität unserer Erkenntnis geschrieben, über die Anonymität der Großstadt und die verzweifelten Versuche, in bürgerlichem Ambiente eine in sich schlüssige Biographie aufzubauen. Es ist ein hochgradig philosophischer Roman, dessen Philosophie sich aber ganz unaufdringlich aus der Handlung ergibt.
Paula Hawkins. Girl on the Train. Du kennst sie nicht, aber sie kennt dich. Blanvalet München, 448 Seiten Paperback, 12.99 Euro