Man kann gelegentlich den Eindruck gewinnen, unsere optische Wahrnehmung sei reine Sinnestäuschung, doch dazu tragen wir ein Gutteil selbst bei. So sagen wir: Das Kleid ist blau und behaupten damit, die Farbe sei eine Eigenschaft des Stoffs. Doch in Wirklichkeit kommt der Eindruck „blau“ erst durch das Zusammenwirken von Augen und Gehirn zustande, und die Augen nehmen nur die vom Objekt reflektierte elektromagnetische Strahlung wahr, also das, was vom Objekt nicht aufgesogen wurde. Ohne Licht also gäbe es für uns keine Farben. Das sollte man im Kopf haben, wenn man vor den Bildern von Thomas Deyle steht.
Bei Thomas Deyle strahlt alles von innen heraus. Man meint, es handle sich bei Deyles Farbobjekten um Glaskästen, die von innen her durch eine farbige Oberschicht erleuchtet werden. Der Eindruck Glas ist auch gar nicht so falsch, Deyle wählt als Bildgrund stets eine Acrylglasplatte. Und der Eindruck, es handle sich um Glaskästen, rührt daher, dass diese Glasplatten einige Millimeter vor der Wand hängen. Doch der Rest dieses ersten Eindrucks ist falsch. Deyle ist, wenn man so will, ein herkömmlicher Maler, der auf eine Platte Farbe aufträgt, zwar nicht mit dem Pinsel, sondern mit einer Walze, aber es ist ganz gewöhnliche Acrylfarbe, die er freilich selbst herstellt, denn für sein Verfahren benötigt er eine ganz dünne Farbstruktur.
Bis zu tausend Schichten trägt er so auf die Platten auf. Das kann mal eine einzige Farbe sein, auf anderen Bildern wiederum changieren mehrere Farben, gehen in andere über, kaum merklich, als verschmölzen sie wie von selbst miteinander und verwandelten sich dabei. Die einzelnen Farbschichten sind unterschiedlich groß, sodass man an den Rändern Deyles Maltechnik nachvollziehen kann.
Eigentlich müsste bei so vielen Schichten das Ergebnis stets gleich sein: tiefes Schwarz, und das ist in einem Fall auch geschehen, obwohl man das nur am Original sieht, fotografische Wiedergaben seiner Werke lassen sich kaum herstellen, da verschwimmt alles und die Farben werden verfälscht. Von den Rändern her freilich sieht man, dass dieses Schwarz aus einem Blau resultiert, und nicht einmal einem besonders dunklen. Da die Schichten so dünn und transparent sind, ist Schwarz die Ausnahme.
Damit könnte man Deyle einreihen in die Tradition der Farbfeldmalerei, die Hardedgekunst, könnte an einen Mark Rothko denken, dessen Bildflächen ähnlich wie die Deyles den Betrachter zur Reflexion, zur Versenkung herausfordern. Aber Deyles Bilder sind mit diesen Traditionen nicht vergleichbar, denn es sind keine Bildflächen, es sind undefinierbare Gebilde. Zum einen ist da das magische Leuchten, das man sich nicht erklären kann, das wie aus einer anderen Sphäre als der irdischen zu kommen scheint. Durch dieses Leuchten löst sich der Eindruck einer Farbfläche auf, aus der die Bilder aber auch bei ihm ausschließlich bestehen. Die Flächen scheinen sich zu einem Farbraum auszudehnen. Mal wirken diese „Räume“ der Schwerkraft unterworfen, die „kompakter“ wirkenden Farbpolster scheinen nach unten abgesunken zu sein. Mal aber erheben sie sich seltsamerweise auch nach oben, und die uns vertraute Zuordnung von oben = leicht, unten = schwer wird erschüttert.
Vor allem aber fehlt diesen Bildern, wiewohl sie aus tausend Schichten gewöhnlicher Acrylfarbe bestehen und also stofflich sind, jegliche greifbare Substanz. Man meint, man würde in eine farbige Gaswolke eintauchen, wenn man mit einem Finger in die Farbräume vordringen würde.
Dabei ließ sich Deyle zu so manchen Bildern von real existierenden Ölgemälden inspirieren, Rembrandt zum Beispiel. Da er zu jedem Bild eine Art Arbeitsplan herstellt, eine „Partitur“, kann man genau erkennen, welchen kleinen Teil aus einem Rembrandtgemälde er als Farbanstoß zu seinen eigenen Bildern genommen hat.
Und noch etwas macht diese Bilder zu etwas Einzigartigem: Sie scheinen nicht nur absolut substanzlos, schwerelos, sie scheinen zudem in ständiger Bewegung. Von Deyles Bildern geht ein Schwingen aus, als wären es kinetische Gebilde. So transzendiert dieser Künstler alle Grenzen und Seinsbedingungen gemalter Bilder, obwohl auch er nichts anderes tut als eben zu malen, und er führt uns mit seinen Farbflächen vor, was Farbe letztlich für unser Augen eigentlich ist: pures Licht. Damit sucht er seinesgleichen.
„Thomas Deyle – Lichtdeuter“, Galerie Schlichtenmaier, Stuttgart, bis 30.11.2019