Tragödie ohne Tragik: Claus Peymanns King Lear in Stuttgart

Als Elementarereignis bezeichnete der Theaterkritiker Georg Hensel einmal das Stück: Shakespeares Tragödie über den König Lear, der vorzeitig sein Reich unter seinen Töchtern aufteilt, ist ein Drama um die Verblendung eines Mannes, der meint, weiter als König behandelt werden zu sollen, wenn er längst keiner mehr ist, der den vordergründigen verbalen Liebesbekenntnissen mehr traut als dem ehrlichen Verhalten, der aus maßloser Wut seiner Jüngsten, die ihm das Lippenbekenntnis versagt, das Erbe aufkündigt. Da werden Kinder verstoßen, Feinde geblendet – ein Drama um Egoismus, der jede Stimme des Herzens tötet. Abgesehen von Shakeapeares Titus Andronicus, in dem es nur um unmenschliche Grausamkeit zu gehen scheint, ist dies sein grausamstes Stück. Claus Peymann hat es nun am Schauspiel Stuttgart inszeniert.

Martin Schwab (König Lear). Foto: Thomas Aurin

Was für ein Bühnenbild! Auf leerer schwarzer Fläche ist lediglich ein weißer Kreis gezogen: Er symbolisiert das Reich Lears, aus dem es für die Beteiligten kein Entkommen gibt. Über allem hängt im Zentrum eine Krone – Symbol jener Königswürde, auf die der arrogante Herrscher nicht verzichten will, wenn man ihm begegnet, auch wenn er Regierungsverantwortung abgibt. Schließlich entsagt er expressis verbis nur der Regierung, dem Landbesitz und den Staatsgeschäften.

Die Figur der Cordelia und die des Narren mit derselben Schauspielerin zu besetzen, ist zwar nicht Peymanns ureigenste Idee, ist aber sinnvoll: Beide können nur die Wahrheit sagen, nur dass der Narr es ungestraft tun darf. Und wenn am Ende Lear seine tote Tochter im Schoß hält, sagt er zärtlich zu ihr: „Armes Närrchen“. Vor allem aber spielt Lea Ruckpaul beide Figuren mit einer subtilen Mischung aus Naivität und unerschütterlicher Wahrheitsliebe – glaubhaft bis in die letzte Faser. Wie sie mit einer Ziehharmonika und einem kleinen Klappstuhl – auf das sich auch Lear setzt in Ermangelung eines richtigen Throns – das kleine Kind gibt, das weise ist wie ein uralter Erwachsener, ist ein Theaterereignis.

Das freilich lässt sich von den übrigen Figuren nicht sagen. Peymann bringt Cordelias Schwestern Goneril und Regan als ehrgeizige Salonschlangen auf die Bühne, denen es nur um ihre vordergründige Macht an ihrem Hof geht, die gemeinsame Sache machen, wenn es ihnen nützt, ihren greisen Vater aus ihren Häusern zu vertreiben, und die gegeneinander intrigieren, wenn sie um denselben jungen Mann buhlen. Sie könnten auch der Fernsehserie Vorstadtweiber entsprungen sein. Die Vielschichtigkeit dieser Figuren bleibt unterbelichtet, ihr krankhafter Ehrgeiz, ihre Enttäuschung über ihre Ehemänner. Und auch der von ihnen auserwählte Edmund, der uneheliche Sohn von Graf Gloster, der sich durch Heuchelei und Lüge zu verschaffen sucht, was ihm die uneheliche Abkunft verwehrt, kommt als Klischeefigur auf die Bühne. Jannik Mühlenweg muss sich grimassierend seinen Weg nach oben bahnen.

Von dieser Eindimensionalität bleibt auch Martin Schwabs Lear nicht verschont. Er ist nicht ein zutiefst Gekränkter, ein Mensch, der an seinem Verstand zweifelt, dem jeglicher Sinn in dieser Welt abhanden gekommen ist. Schwabs Lear ist ein zorniger alter Mann, dem die Welt nicht das gewährt, was ihm seines Erachtens gebührt.

Martin Schwab (König Lear), Elmar Roloff (Gloster). Foto: Thomas Aurin

Wenn er später mit einer Krone aus verdorrten Weidenzweigen über die Heide irrt, dann wirkt er nicht viel anders als wenige Szenen zuvor, als er noch wie ein gealterter Lebemann mit Tanzschritten die Höfe seiner Töchter aufmischt. Er tänzelt auch als Irrsinniger über die Bühne, als wäre das alles ein Riesenspaß. Schwab spielt einen König, der in den Wahnsinn driftet, souverän, aber er verkörpert ihn nicht. Selbst altgediente Ensemblemitglieder wie Elmar Roloff und Wolfgang Stiller, die stets auch den kleinsten Rollen faszinierende Facetten abgewinnen, sind in dieser Inszenierung zur Farblosigkeit verdammt.

Hinzu kommt eine Unentschlossenheit in der Gewichtung der Szenen. Wenn der geblendete Gloster sich an einen Abgrund führen lässt, um dort sein Leben zu endigen, zieht Peymann die Szene ungebührlich in die Länge, während die wahrhaft anrührende Szene, wenn der alte Lear, die tote Cordelia im Schoß, immer noch meint, einen Lebenshauch aus ihrem Mund wahrnehmen zu können, weit entfernt vom Publikum eher beiläufig vorüber huscht.

Lediglich Lea Ruckpauls Narr hat wahrhaft shakespearesche Dimension, man traut sich gar nicht auszumalen, welches Lebensschicksal diese Figur zu diesem weisen Irrsinn geführt hat. Sie spielt nicht den Narren, sie ist eine Tragödin. Ansonsten aber hat Claus Peymann den Text einer Tragödie in Szene gesetzt; die Tragik blieb dabei auf der Strecke.

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