Träume aus Texten und Bildern: Malerbücher zu Beginn der Moderne

Er verliebte sich so unsterblich in sie, dass er sich am Ende das Leben nahm. Doch was genau Goethes Werther an Lotte so verzauberte, bleibt vage. Wir hören lediglich von einem Mädchen von schöner Gestalt und mittlerer Größe. Sprache kann zwar sehr konkret sein, doch bei der Beschreibung ihrer Figuren bleiben Dichter nicht selten ungenau, weshalb sich denn auch jeder Leser sein eigenes Bild von den Charakteren macht – es sei denn, ihm helfen Illustratoren. Meistern wie Grandville oder Doré verdanken wir das Bild eines hageren, sich mühsam im Sattel aufrecht haltenden Ritters von der traurigen Gestalt. Bei Cervantes ist er lediglich hager an Gestalt und dürr im Gesicht. Die Hochzeit solcher Buchillustrationen lag im 19. Jahrhundert und hätte eigentlich zu Beginn des 20. obsolet sein müssen, doch gerade da entwickelte sich eine ganz neue Tradition von „Bilderbüchern“, wie jetzt die Städtische Galerie in Bietigheim zeigt.

Eigentlich sollten bildende Künstler für ein Buch Text nicht nötig haben. So wollte denn der Verleger Tériade ursprünglich auch nur die herrlichen Scherenschnitte von Matisse zusammenfassen, doch dann spürten Verleger und Künstler, dass sich die farbmächtigen Bilder gegenseitig erschlugen. Sie brauchten beruhigende Seiten – und Matisse schrieb eigenhändig selbst verfasste Texte – der Text als Puffer zwischen überwältigenden Bildern, das ist das Gegenteil dessen, was im 19. Jahrhundert als Buchillustration populär war, wo das Bild als gelegentliche Zutat zum Text diente.

Auch Maurice Denis stellte in seiner Liebesgabe an seine Frau 1899 das Bild ganz in den Vordergrund, ergänzte die Farblithographien mit erotischen Motiven aber immerhin durch einzelne Wörter oder Textlinien und schuf eine Art Vorläufer dessen, was sich in den nachfolgenden Jahren zum Malerbuch entwickeln sollte. Denn auch wenn die gegenständliche Welt für die Künstler immer mehr in den Hintergrund trat, war das Interesse, den Buchtexten bildnerische Gestalt zu geben, ungebrochen. Die antike Klassik faszinierte diese französischen Künstler ebenso wie die goße Literatur ihres Landes, vor allem das pralle Epos Gargantua et Pantagruel von Ranelais. Für das Mitte des 16. Jahrhunderts entstandene Werk voller derber Lebenslust ließ sich André Derain von mittelalterlichen Buchilluminationen inspirieren, ergänzte die Textseiten durch ganzseitige Holzschnitte und durchsetzte den Text mit kleineren Vignetten und Initialen. Bild und Text gehen eine enge Verbindung nach alter Tradition ein.

Auf modernere Weise gelang dies 1900 Pierre Bonnard, als er Gedichte von Paul Verlaine von Zeichnungen umspielen, gelegentlich einhüllen ließ. Das Bild wird hier Teil des Textes, der Text Teil des Bildes.

Vor allem die Verleger und Drucker waren die Inspiratoren dieser neuen Kunst. Sie kannten die Künstler wie die Literaten, brachten beide zusammen. Mit der Ausstellung taucht der Besucher ein in eine Kunstszene, in der die Kunstgrenzen sich auflösten, die Gattungen eine enge Synthese eingingen – und die Künstler nicht selten selbst dichterisch tätig wurden wie etwa Picasso.

Und auch die Drucker und Verleger brachten ihre Fantasie ein. Der Verleger und Dichter Ilia Zdanevitch gestaltete mit Picasso zusammen ein Buch, in dem jede Seite ein anderes Format hat – mal schmaler als die anderen, mal kürzer, so entstand auch formal ein Kunstbuch der besonderen Art, eine Art spielerische Auseinandersetzung mit dem, was ein Buch ausmacht.

Picasso, der insgesamt rund 150 Bücher zum Teil in völliger Eigenregie gestaltete, spielte wohl am meisten mit den Möglichkeiten. So ergänzte er den Gesang der Toten von Pierre Reverdy lediglich mit roten abtrakten Pinsellinien – inspiriert durch eine mittelalterliche Handschrift. Der Text, bestehend aus abstrakten Buchstaben, wird zum Bild durch abstrakte kalligraphisch anmutende Bildlinien. Beide gehen eine nahtlose Verbindung ein. 

Das gelang Joan Miró bei einem Text von Paul Eluard vielleicht am poetischsten. Er spielte künstlerisch mit den Textzeilen, indem er sie locker über die Blätter verteilte, verschiedene Buchstabentypen verwendete und mit seinen eigenen Bildelementen verwob – ein Malerbuch, wie es besser dem Begriff nicht mehr entsprechen kann.

Malerbücher von Bonnard bis Picasso“, Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen bis 2.7.2017

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert