Schon als Kind bastelte sie sich ihr eigenes Silhouettenschattentheater in der Tradition der Chinesen – und damit hatte Lotte Reiniger bereits ihre spätere Berufung entdeckt. Als Teenager kam die Begeisterung für den Stummfilm hinzu, dessen Ausdrucksspektrum Georges Meliés in Frankreich durch Spezialeffekte ausweitete und der durch Walter Ruttmann und Paul Wegener in Deutschland rein abstrakt wurde. Mit beiden arbeitete Lotte Reiniger eng zusammen, während sie ihre eigene Form des Silhouettenanimationsfilms entwickelte. 1926 vollendete sie mit den „Abenteuern des Prinzen Achmed“ den ersten abendfüllenden Film dieses Genres. Jetzt zeigt das Stadtmuseum Tübingen, das Reinigers Nachlass verwaltet, zusammen mit dem Filmmuseum Düsseldorf, dem Lotte Reiniger kurz vor ihrem Tod zahlreiche Dokumente ihrer Arbeit überlassen hatte, eine umfassende, wissenschaftlich fundierte Ausstellung zu diesem epochalen Dokument der Filmgeschichte.
Lotte Reiniger, Die Abenteuer des Prinzen Achmed 1926, Filmhintergrund. Bild: Stadtmuseum Tübingen
Eine lange Vitrine zeigt, wie Lotte Reiniger vorging. Sie schnitt die Figuren bzw. deren Körperteile und Gliedmaßen aus Pappe aus, brachte an den Gelenkstellen, die für die Körperbewegung nötig waren, kleine Scharniere an und beschwerte die schwarzen flachen Pappfigürchen mit Blei, damit sie auf der von unten beleuchtbaren Glasscheibe plan auflagen.
Lotte Reiniger, Die Abenteuer des Prinzen Achmed 1926, Figur Zauberer. Bild: Stadtmuseum Tübingen
Dann fotografierte sie in Einzelbildern die Szenen, wobei sie nach jeder Aufnahme die Körperhaltungen um den Hauch eines Millimeters veränderte. So erzielte sie eine nahtlose Bewegung, in der nichts ruckelt. Damit sie auch den Eindruck erwecken konnte, die Figuren bewegten sich nach hinten in den Raum – wie Achmed, der auf seinem Zauberpferd durch die Lüfte schwebt -, schnitt sie die Figuren in unterschiedlichen Größen zu. Kleinere Figuren wirken so, als befänden sie sich in größerer Distanz im Hintergrund. Die Szenen wurden durch raffinierte Lichteffekte erleuchtet und in Farbe gesetzt.
200 000 solcher Fotos entstanden innerhalb von drei Jahren, 96 000 gingen dann in den Film ein. In Skizzenbüchern hielt sie minutiös die Szenenabfolge und die Länge der Szenen fest, denn Lotte Reiniger war nicht nur eine Meisterin in der Figurenbewegung, sondern auch eine Künstlerin des Rhythmus.
Lotte Reiniger, Die Abenteuer des Prinzen Achmed 1926, Filmstill. Bild: Stadtmuseum Tübingen
Der Rest der Ausstellung ordnet diese Pionierin des Animationsfilms ein in die Kunstströmungen ihrer Zeit und macht deutlich, dass sie sich an der vordersten Front der künstlerischen Avantgarde bewegte. Walter Ruttmann, ihr großes Vorbild, hatte in den 20er Jahren abstrakte Filme gedreht, in denen abstrakte Formen und Gebilde miteinander in Interaktion treten. Standbilder aus diesen Filmen setzt die Ausstellung zu Standbildern aus Reinigers „Achmed“-Film in Relation und zeigt, dass Reiniger zwar durch die märchenhafte Handlung der gegenständlichen Welt von 1001 Nacht verpflichtet war, dass ihr Film aber ähnlich abstrahierenden Tendenzen folgte wie der Ruttmanns. Auch der Jugendstil hatte Spuren in ihrem Werk hinterlassen.
Lotte Reiniger, die so viel dem Vorbild von Wegener und Ruttmann verdankte, wurde ihrerseits zum Vorbild für Animationsfilmer von heute. Der Zauberfilm „Les Contes de la Nuit“ von Michel Ocelot steht eindeutig in ihrer Tradition und Ocelot bekannte denn auch, er habe die große Vorgängerin imitiert, ohne dass es ihm während seiner Arbeit bewusst gewesen sei. Auch Anthony Lucas bewegt sich auf Lotte Reinigers Spuren und selbst so manche Szene der Harry-Potter-Filme verdanken ihre Fantastik diesem Vorbild, auch wenn sie nicht von Trickfiguren besiedelt sind, sondern mit echten Schauspielern.
Unter Regisseuren wie Jean Renoir war ihre Bedeutung schon gleich nach Fertigstellung unbestritten, er setzte sich für die sehr erfolgreiche Erstaufführung des „Achmed“ in Paris ein. Diese Ausstellung und der Katalog aber machen wohl erst jetzt die ganze künstlerische Dimension dieses epochalen Films deutlich. Lotte Reiniger meinte einmal bescheiden, man brauche eigentlich nur Schere, Pappe, Pauspapier, Draht, eine Kamera und fünf Glühbirnen sowie einen Holztisch mit Glasplatte, um einen solchen Film herzustellen. Sie vergaß hinzuzufügen, wie viel Phantasie und Kunstverstand vor allem für ein solches Kunstwerk nötig waren. Die Ausstellung zeigt es.
„Animation und Avantgarde. Lotte Reiniger und der absolute Film“. Stadtmuseum Tübingen, Kornhausgasse, 10. bis 6.3. 2016. Ab 24. 9. 2016 Filmmuseum Düsseldorf.
Horst Simschek und ich haben zu dieser Ausstellung einen Film gedreht, zu sehn bei Youtube
https://www.youtube.com/watch?v=T8tvxyZF4Uc
Lieber Herr Zerbst,
Sie legen ja in einem unglaublichen Tempo los. Da fehlt einem ja fast die Zeit, alles und jedes zu lesen.
Gratulation. Ich freue mich jedenfalls sehr darüber.
Herzliche Grüße
Kuno Schlichtenmaier