Erkenne dich selbst, soll über dem Apollotempel in Delphi gestanden haben. Doch damit tun die Menschen sich schwer, Selbstverblendung scheint ihnen eher gemäß, zumindest ist sie bequemer. Es bedarf meist eines Anstoßes von außen. Die Literatur kann ein Mittel hierfür sein, eine Figur wie Till Eulenspiegel trug zu diesem Behufe einen Spiegel bei sich, den er den Menschen vorhielt. Der Fabeldichter La Fontaine bediente sich der Tiere, um den Menschen ihre Mängel vor Augen zu führen, bildende Künstler erfanden Bestiarien – der Bildhauer Thomas Putze hat eines aus Holz mit der Kettensäge in die Welt gesetzt.
Sie hat etwas Majestätisches an sich, die Giraffe, die den Kopf hoch in die Luft streckt, dabei scheinbar ungerührt Blätter zermalmt; sie scheint über der Welt zu thronen. So hat Thomas Putze sie denn auch dargestellt, aber die Beine seiner Giraffe sind noch ein wenig länger als beim echten Tier, seine Giraffe drückt einen Hochmut aus, wie er arroganter kaum sein könnte – und wirkt wie ein Mensch, der die Nase zu weit oben trägt. Wann immer Putze Tiere gestaltet, drängen sich Ähnlichkeiten mit Menschen geradezu auf. Sein Tanzschwein könnte auch ein dickleibiger Herr sein, der meint, auf dem Parkett eine gute Figur abgeben zu können, und voll Begeisterung über seinen Auftritt lacht wie ein Honigkuchenpferd.
Putzes Tierskulpturen sind Kreaturen, die sich im Kampf befinden – etwa im Kampf gegen die Tücken des Objekts. Das gilt auch für seine menschlichen Figuren, die sich nicht viel anders benehmen als seine Tiere.
Sein Schwerenöter weiß nicht, wie er sich winden soll, um vor der Welt gut dazustehen. Putze zeigt ihn, wie er sich in einen Schlauch verwickelt, aus dessen Umklammerung er sich kaum zu befreien weiß. Das Paar scheint mitten in einer Ehekrise, so missmutig blicken die beiden drein und aneinander vorbei. Wie er seinen Arm um ihre Schulter legt, wirkt wie eine Zwangsmaßnahme, und beide sind an den Füßen mit Metallklammern aneinander gefesselt; keine Chance auf Befreiung.
Man muss bei Putze genau hinsehen, dann entdeckt man in jeder Plastik ein ganzes Spektrum an möglichen Bedeutungen, denn Putze ist nicht eindeutig, er ist kein Satiriker, er ist eher Philosoph mit einer leichten Neigung zum Lächeln. Sein Affe als Mr. Tambourine Man, in Anspielung an eine Figur in einem Bob-Dylan-Song, in dem eine Figur (genau weiß man es nicht) möglicherweise unter Drogen steht, hängt geradezu tollkühn an einem einzigen kleinen Ast und scheint sich seiner prekären Situation in keiner Weise bewusst.
Putze stellt die Welt auf den Kopf. Der Teufel ist bei ihm eine Frau, eine Leibhaftige, und aus dem Ausguck, aus dem üblicherweise der Jäger mit dem Gewehr im Anschlag Ausschau nach einem Wildschwein hält, schaut bei Putze verschmitzt dieses sein angestrebtes Opfer heraus. Wo mag da der Jäger sein? Wenn es heißt, eine Krähe hacke der anderen kein Auge aus, ist man sich bei Putzes Vögeln mit ihrem struppigem Gefieder keineswegs so sicher.
Soweit die inhaltliche Seite. Die handwerkliche, die zu jeder Kunst gehört, ist nicht minder frappierend. Putze gestaltet seine miniaturhaft kleinen Tierkörper, die kleine Miniaturen sind, nicht mit dem Stechbeitel, sondern mit der Kettensäge. So wirken seine Gestalten stets ein wenig rau, auch in ihrem Ausdruck, und zugleich auch verletzlich. Niedlich sind Putzes Figuren nie, eher etwas trotzig. Zugleich befinden sie sich, bei aller erkennbaren Tierähnlichkeit, stets an der Grenze zum Abstrakten. Das Gefieder der Krähen besteht eben aus nichts als sich vom Holz abspreizenden Holzsplittern.
Außerdem kombiniert Putze nicht selten sein Holz mit anderen Materialien. Sein Hai ist aus Kirschholz gesägt, der Schnabel besteht aus dem Zahn einer Baggerschaufel. Sein Ringer müht sich mit einem schwarzen Schlauch ab. So entsteht eine Kunstwelt zwischen den Gegensätzen: Gegenständlich ja, aber doch auch abstrakt – vor allem aber bei aller Tierliebe stets auch sehr menschlich.
„Thomas Putze – Mitspieler“, Galerie Schlichtenmaier, Schloss Dätzingen in Grafenau bis 20.1.2018