Die Deutungsversuche um Goethes Faust scheinen nicht aufzuhören, vor allem die Deutschen sahen in der Titelfigur gern eine Verkörperung ihres Wesens als Menschen des Geistes, der Forscherkraft, weshalb sie Charles Gounods Vertonung des Dramas hierzulande nicht mit demselben Titel versahen, sondern als Margarethe auf die Bühne brachten. Doch das Drama ist genau besehen letztlich eine Auseinandersetzung um die Schattenseiten des Menschen, um Verführung, Kindsmord und Hinrichtung, geplant vom Inbegriff des grundlos Bösen, dem Teufel, und das stellte Arrigo Boito in seiner bezeichnenderweise nach ihm benannten Oper in den Vordergrund. Der Spanier Àlex Ollé hat sie in einer Koproduktion der Opern Lyon und Stuttgart neu inszeniert, wo sie jetzt mit neuem Ensemble auf die Bühne kam.
Was für eine Szene! Faust und Mefistofele besuchen Margherita im Gefängnis, wo sie wegen Kindsmord auf ihre Hinrichtung wartet. Das arme Geschöpf schwankt zwischen Verzweiflung über ihre Tat und Situation und sehnsüchtigen Erinnerungen an bessere Zeiten (eine Glanzleistung von Olga Busuioc, deren Sopran zu hochdramatischen Ausbrüchen ebenso fähig ist wie zu lyrisch-empfindsamen Pianotönen), aber sie wendet sich nicht an ihren Geliebten, sondern an den, in dem sie eigentlich das abgrundtief Böse sieht – Mefistofele -, und der zeigt zum einzigen Mal so etwas wie Gefühl.
Ähnlich psychologisch durchdacht ist die Szene, in der sich Mefistofele im vierten Akt von der Gefährtin der schönen Elena abwendet, mit der er ebenso wenig zu tun haben will wie mit Margheritas Nachbarin Marta – beide werden von Fiorella Hincapié verkörpert, wie auch Elena und Margherita einer einzigen Sängerin, Olga Busuioc, anvertraut sind, die die beiden Figuren klangschön und psychologisch unterschiedlich gestaltet.
Doch diese Szenen bleiben Ausnahme in einer Inszenierung, die an psychologischer Stringenz nicht allzu viel zu bieten hat. Dabei hätte das Bühnenbild von Alfons Flores durchaus zu symbolischen Assoziationen Anlass geben können. Prolog und Epilog finden in einem Labor statt, in dem Faust nebst Forscherkollegen Fleisch sezieren. Ein Herz wäre stimmiger gewesen, jenes Organ, das im Prolog Engel wie Geier Mefistofele aus der Brust reißen. Das Labor ist Ausdruck von Fausts Forscherdrang wie auch von Mefistofeles genau geplantem Projekt, Faust zu seinem Opfer zu machen.
Mika Kares (Mefistofele). Foto: Thomas Aurin
Für den Rest genügt ein Turm aus Metallgestänge, in dem sich das Volk in der Freizeit verlustiert, die Hexen tanzen, Mefistofele wie ein König über allem steht und Margherita auf einen elektrischen Stuhl steigt. Einerlei in welche Sphäre der Welt man blickt, will dieses Bühnenbild sagen, es herrscht überall gleiche Gefühlslosigkeit und geistige Armut. Kein Wunder, dass Faust mit diesen Zeitgenossen nichts zu tun haben möchte.
Doch in diesem Ambiente bietet Ollé nicht viel mehr als eine opulente Ausstattungsrevue. Der Hexensabbat auf dem Blocksberg ist harmlos, nicht viel mehr als Ringelpiez mit Anfassen, das sich von der Disco, die kurz zuvor die Landbevölkerung besucht, kaum unterscheidet. Orgiastische Sinnenlust sieht anders aus. Elena, die Faust ja bedingungslose Ekstase bereiten soll, ist nicht mehr als ein cooles Revuegirl in Schlitzkleid. Wenn sich Faust und Elena in Aufwallung erotischer Gefühle einander nähern, deuten sie lediglich ein paar Tanzschritte à la Ginger Rogers und Fred Astaire an.
Ollé habe, so ist im Programmheft zu lesen, das Stück als Halluzination eines Psychopathen inszenieren wollen, doch davon ist kaum etwas zu spüren mit Ausnahme der kitschigen Engelskostüme der himmlischen Heerscharen, die man als verzerrte Perspektive des Teufels auf Gottes Sphäre deuten kann. Ansonsten ist er, was er auch bei Goethe ist, der Geist, der stets verneint. Interpretatorische Substanz verdankt dieser Mefistofele einzig der sängerischen Subtilität von Mika Kares. Als Mefistofele kommentiert er sarkastisch mit schwarzem Bass seine Sicht der Welt, nähert er sich überredend und schmeichelnd seinem Opfer Faust und thront er souverän über dem Tanz der Hexen. Diese Vielschichtigkeit lässt Antonello Palombi ein wenig vermissen, er verlässt sich allzu sehr auf die brillante Italianitá seines Tenors.
Für diese Emotionen, für die Boito grandiose Passagen komponiert hat, sorgt das Orchester unter Daniele Callegari. Hier spielt sich ähnlich wie im Chor das eigentliche Drama ab vom zarten Melos der Himmelssphäre über die ausgelassene Feststimmung der Bevölkerung bis zum Hexensabbat, der in dieser Inszenierung letztlich nur durch die Stimmen des Chors und die Instrumente des Orchesters realisiert wird, desgleichen, wenn Elena Bilder vom Untergang Trojas heraufbeschwört. Vor allem der Chor hat in dieser Oper eine heimliche Hauptrolle – als himmlische Heerscharen, als Volk, das sich sinnlichen Vergnügungen hingibt, als Hexen auf dem Blocksberg. Insofern ist die Oper Stuttgart das ideale Haus für dieses Werk, denn kein Opernchor wurde derart häufig zum Chor des Jahres gekürt wie der Stuttgarter, und er macht auch hier seinem Ruf alle Ehre. Unter Manuel Pujols Leitung lotet er alle Ausdrucksspektren aus, vom lieblich harmonischen Gesang der Engel bis zum orgiastischen Toben beim Hexensabbat und dem mächtig anschwellenden Finale des Epilogs. Kein Wunder, dass das Publikum ihn mit Ovationen feierte.
So reduziert sich diese Oper um das abgründig Böse zu einem Augenschmaus, der den Besucher emotional wie intellektuell weitgehend unbeteiligt lässt. Das eigentliche Drama spielt sich in der Musik ab, dank dem grandiosen Ensemble in Stuttgart. Subtile Regie, wie man es von dieser Opernbühne gewohnt ist, bleibt Fehlanzeige.