Mathematisch gesehen ist sie ein eindimensionales Gebilde ohne Unterbrechung und ohne Querausdehnung – die Linie; ein breiter Streifen wäre also schon keine Linie mehr. Man kann sie auch als kürzeste Verbindung zweier Punkte definieren – aus künstlerischer Sicht also ein höchst unergiebiges Zeichenelement, und doch setzte kein Geringerer als Paul Klee einen Satz von Plinius dem Älteren aus dem antiken Rom über sein Schaffen: Kein Tag ohne Linie, wobei er die Linie sehr viel spielerischer verstand als die Mathematiker, nämlich als Spur eines in Bewegung geratenen Punktes. Dass die Linie noch sehr viel mehr sein kann, zeigt eine Ausstellung im Museum Ritter: „Kein Tag ohne Linie“.
Dabei kann es durchaus vorkommen, dass ein Künstler sich tatsächlich mit der nüchternen mathematischen Definition begnügt. Timm Ulrichs, stets humorvoll hintersinnig, zeichnete ein Quadrat auf Leinwand – natürlich aus vier Linien im rechten Winkel zueinander, und zog in dieses Quadrat zwei Maßlinien ein, die anzeigen, wie groß das Bild ist, nämlich hundert auf hundert Zentimeter – Bild mit Maßlinien. In einer anderen Arbeit zeigt er, wie man eine solche Linie herstellen kann: Man kann sie mit einem Lineal ziehen oder indem man an eine Schnur ein Stück Blei hängt, ein Lot. Sie müsste dann schnurgerade von oben nach unten führen, was sie bei ihm aber nicht tut, denn da hängt sie quer in der Fläche, Fazit: Aufhebung der Schwerkraft, und schon sind wir meilenweit von der nüchternen Definition der Linie entfernt in ganz anderen thematischen Dimensionen.
Wie man eine Linie herstellt, treibt mehrere Künstler um. Serena Amrein spannte über eine Leinwand kreuz und quer dünne Fäden, die mit Pigmentpulver getränkt waren. Dann schnippte sie mit den Fingern an den Fäden, das Pulver setzte sich auf die darunterliegende Leinwand ab und „gezeichnete“ Linien entstanden.
Auch Katharina Hinsberg arbeitet mit dünnen Linien, allerdings etwas zittrigen, weshalb sie nicht ganz der strengen mathematischen Definition entsprechen. Doch diese wie mit Stift auf Papier gezogen wirkenden Linien waren ursprünglich einmal ein Quadrat, also eine Fläche, der absolute Gegensatz der dünnen Linie. Aus einer rot gefärbten quadratischen Fläche hat sie die Innenfläche ausgeschnitten, stehen blieb der quadratische Rand – ähnlich wie bei Timm Ulrichs Maßlinienbild, doch sehr viel natürlicher wirkend. Natürlich wirken auch die Linien bei Manuela Tirler. Sie wirken wie krumme dünne Äste, die sie zu einem großen Würfel zusammengestellt hat. Die „Äste“ freilich sind aus Stahl – eine Arbeit, die zeigt, wie man von der Linie zum Quadrat und sogar zum Würfel gelangen kann, doch davon später.
Bleiben wir beim Quadrat. Bei Timm Ulrichs wirkte es streng geometrisch, bei Katharina Hinsberg durch die leicht zittrigen Linien organisch. Aber auch mit strengen Quadraten kann Bewegung in ein Bild kommen. Henryk Stažewsky lässt auf einem Bild vier unterschiedlich große Quadrate aus weißen Linien eine Art Tanz aufführen, und Hellmut Bruch fügt vier unterschiedlich große Quadrate ineinander, nach genau berechneten Größenverhältnissen. Vor allem aber – und daher würde seine Arbeit auch in die Kategorie „Woraus besteht eine Linie?“ gehören – bestehen seine Linien aus Licht, das sich in fluoreszierendem Acrylglas fängt.
Bruchs Arbeit folgt also mathematischen Gesetzen, und die Linie regt in der Tat zum systematischen Arbeiten an. Timm Ulrichs hat beispielsweise dicke runde Linien auf kleine Quadrate gemalt, stets dieselben, exakt ein Viertel eines Kreisrunds, und setzte sie wie aus einem Spielkasten zusammen, mal so, dass sie kleine Kreise bilden, dann wieder, dass sie andere Muster kreieren, bis das Systematische fast nicht mehr zu erkennen ist. Ähnliches findet sich bei Vera Molnar. Auf den ersten Blick hat sie aus dicken Linien ein regelmäßiges Ornament gezeichnet, doch dann erkennt man Unregelmäßigkeiten, die Unruhe und Leben ins Ornament bringen, wie auch das Bild von Leo Breuer, dessen kleine lineare Haken mal enger, mal weiter beieinanderstehen: System und Systembruch, auch das gehört zur Linie.
Und eben auch, obwohl die Mathematik da wohl Einspruch erheben würde, der Raum – ganz raffiniert bei Gerhard Frömel.
Ausgangspunkt sind vier Diagonalen in einem Quadrat. Doch nur von einem bestimmten Punkt aus wirken diese Diagonalen wie vier Linien auf einer Fläche. In Wirklichkeit sind sie auf zwei unterschiedlichen Flächen angeordnet. François Morellet hat in einer Raumecke aus Neonröhren – wieder eine Möglichkeit, Linien zu erzeugen – ein Liniennetz gebildet, das weit in den Raum ragt. Erwin Herbst hat mit dicken Stahldrähten gewissermaßen im Raum gezeichnet und sogar Bewegung ins Spiel gebracht. Fast noch raffinierter ist Martin Willings Stahlarbeit.
Er hat aus einem einzigen sich immer mehr verjüngenden Stahldraht einen Kubus gebaut; der Verlauf des Drahts lässt sich genau verfolgen. Konischer Draht zum Kubus gedreht nennt er seine Arbeit – und mit dem Wort „gedreht“ sind wir bei einer weiteren Arbeit von François Morellet. Aus Stahldraht hat er eine Kugel gebastelt, die streng genommen aus lauter durch Linien angedeutete Kuben, also räumlichen Quadraten besteht – eine Quadratur des Kreises oder eine Verkreisung des Quadrats mit Hilfe der Linie –
die eben weit mehr sein kann als nur die kürzeste Verbindung zweier Punkte. Unter den Händen von Künstlern kann sich die Linie sogar scheinbar auflösen, wenn sie nämlich dicht übereinander gesetzt dazu führt, dass dem Betrachter schwindlig zu werden droht wie bei George Pusenkoff oder Susanne Ackermann. Somit liefert die Linie in der Tat im Leben eines Künstlers, wie Paul Klee angedeutet hat, Stoff genug, dass er sich jeden Tag mit ihr auseinandersetzt.
„Kein Tag ohne Linie. Werke aus der Sammlung Marli Hoppe-Ritter“. Museum Ritter, Waldenbuch, bis 24.4.2022