Spätestens seit Kandinsky hatte sich die Malerei von ihrer Bindung an die Welt der Gegenstände gelöst. Das war für die Künstler des 20. Jahrhunderts sicher eine Befreiung – zugleich aber auch eine Herausforderung, die auch als Last empfunden worden sein dürfte. Versuche, die Malerei ganz der Geometrie zu unterwerfen, zeugen davon. Die Künstler des 20. Jahrhunderts waren auf der Suche nach einer ganz eigenen Malweise jenseits der Welt, die sie vor Augen hatten – und fanden sie, fast zwangsläufig – schließlich in sich selbst: Informell nannte der französische Kritiker Michel Tapié jene Kunst, die ganz aus der künstlerischen Intuition des einzelnen schöpft. Pierre Soulages und Hans Hartung waren in Frankreich große Vertreter dieser Richtung, Gerhard Hoehme und Emil Schumacher in Deutschland – und auch der vor 100 Jahre geborene Hann Trier.
Wilde eruptive Pinselstriche stehen neben zarten Figurationen, leichten Retuschierungen. Wie in Trance scheint dieser Künstler gemalt zu haben. Alles wirkt ungezwungen, der Eingebung des Augenblicks geschuldet, spielerisch – und so empfand Hann Trier seine Malerei auch, als „Tanz von Pinseln, die in Farbe getaucht sind“, wie er einmal formulierte.
Darüber zu reden oder gar zu schreiben scheint sinnlos, das Auge ist gefordert, den Abenteuern der Linien und Farben auf der Leinwand zu folgen, und doch macht es Trier dem Betrachter seiner Werke nicht ganz so schwer wie so manche seiner Kollegen. „Lokaltermin“ nannte er ein Bild aus dem Jahr 1962, das wirkt sehr konkret, klingt nach „Tatort“ – im Fernsehen ebenso wie im Alltag der Polizei – und als Tatort, als Ort des Geschehens sah Trier ja auch die Leinwand, die er vor sich hatte, „Tatort“ heißt denn auch ein anderes Bild von Trier aus demselben Jahr. Vor einem rosafarbenen Hintergrund ballen sich in der rechten Bildhälfte blaugraue Farbformen, überzeichnet von schwarzen, filigranen Pinselstrichen – ein abstraktes Bild, keine Frage, und doch fängt der Betrachter unversehens an, mehr darin zu entdecken. Das blau-schwarz drohende Gebilde erinnert vage an einen Raubvogel, der seine Krallen in den rosafarbenen Raum hinausschiebt. Eine unbändige Kraft geht von dem Gebilde aus, das an Vögel erinnern mag, und doch nichts als abstrakte Farbmasse ist. Dieses Changieren zwischen abstrakter Form und gegenständlicher Assoziation zieht sich immer wieder durch Triers Schaffen. Mal sind es nur die Farben: „Verano“ – Sommer – heißt ein Bild, das mit seinen dominanten dichten roten Farbwolken als sommerliches Blühwunder gedeutet werden kann, aber auch rein abstrakt als Farbabenteuer genossen werden darf. „
„Cancer“ heißt ein anderes, dessen dicke Linien im Vordergrund weniger an das Krebsgeschwür gemahnen sollen, als vielmehr an das Sternkreiszeichen. Die roten Linien drängen sich wie glühendes Gestein dem Auge entgegen.
Natürlich hat Trier, der diese Malweise in Kolumbien kennenlernte, für seine tanzenden Pinsel auch dem „Tango“ ein Ehrenmal gezeichnet – und den Großen der italienischen Kunstgeschichte: Bernini beispielsweise. Doch stets unter Wahrung der ungegenständlichen Malerei mit Pinsel und Farbe. Und was er – möglicherweise angeregt durch ostasiatische Kalligraphie – mit wenigen weißen Strichen auf schwarzem Papier vor das Auge des Betrachters zauberte, grenzt an ein ästhetisches Wunder.
„Hann Trier“. Galerie Schlichtenmaier. Stuttgart, Kleiner Schlossplatz, bis 16.1.2016