Vermutlich haben die Menschen schon immer getanzt, wenn ihnen froh zumute war. Bereits Jahrtausende vor Christus finden sich Höhlenmalereien mit Reihentänzen, vermutlich zu kultischen Zwecken. Solche Tänze dürften bereits strukturiert gewesen sein, wie es im klassischen Ballett wohl am ausgeprägtesten zu sehen ist; doch eigentlich ist Tanz ein eher ursprüngliches Verhalten in ausgelassener Stimmung. Kein Wunder, dass gerade die Expressionisten sich davon angezogen fühlten, strebten sie doch ein Leben und eine Kunst in möglichster Natürlichkeit an, wie eine Ausstellung von Max Pechstein in der Kunsthalle Tübingen zeigt.
Sicher tanzten sie mit Lust und Leidenschaft, am liebsten nackt an den Moritzburger Seen, und hielten dabei ihre Freundinnen in Bildern fest. So könnte auch dieses 1909 entstandene Gemälde von Pechstein seine Lotte, die ihm als Modell diente, Freundin wurde und Ehefrau, darstellen, nicht am Seeufer, sondern im Atelier, aber bei ausgelassenem tänzerischen Treiben. Wie so oft bei Pechsteins Tanzszenen stimmen die Posen und Bewegungen mit den menschlichen Körpergesetzen nicht unbedingt überein, aber Kunst ist nicht Abbild des realen Lebens, und gerade mit solchen Abweichungen erzielte er den Eindruck von natürlicher Ausgelassenheit. Die beiden Arme der Tänzerinnen verschmelzen zu einem Organ, alles ist in Bewegung, auch der Raumhintergrund, als würden wir ihn sehen, wie ihn die beiden Tanzenden wahrnehmen. Pechsteins große Tanzbilder fangen perfekt das Wesen des Tanzes ein: Bewegung und Körperlichkeit.
Darin unterscheidet er sich von seinen Künstlerkollegen der Brückegruppe. Die Ausstellung zeigt beispielsweise, wie Ernst Ludwig Kirchner seine Tanzszenen sehr viel stärker stilisiert. Seine Artistentruppe ist fast abstrakt, die Bewegung löst sich völlig von der menschlichen Figur und wird zum Kunstprodukt. Pechstein bleibt näher an der Realität, ohne sie aber sklavisch abzubilden.
So lernt man in der Ausstellung nicht nur einen Künstler kennen, der selbst gern tanzte, wie Fotos von Künstlerkostümbällen beweisen. Pechstein ist nicht selten eine Art Chronist des tänzerischen Geschehens seiner Zeit in seiner ganzen Vielfalt. So erlebte er den Musikclown Grock und porträtierte ihn in einem Aquarell. Die Ausstellung zeigt in einem Film Auftritte des legendären Zirkuskünstlers, und man sieht, wie genau Pechstein Grocks Mischung aus Komik und melancholischem Ernst eingefangen hat.
Tanz war für Pechstein mehr als stilisierte Bewegung, wie man sie im Ballett oder Gesellschaftstanz findet. Der interessierte ihn auch, und er zeigte, wie die bürgerlichen Paare beim Tanz durchaus erotische Fantasien auslebten, die ihnen im Varieté auf der Bühne von professionellen Tänzerinnen vorgeführt wurden.
Bewegung aber konnte auch Artistik sein, im Zirkuszelt auf dem Rücken von Pferden, und wieder gelang Pechstein das Kunststück, Bewegungen und Hebungen darzustellen, die in der Realität unmöglich wären, auf dem Bild aber genau das ausdrücken, was sie übermitteln wollen: scheinbare Schwerelosigkeit, Mühelosigkeit im kompliziertesten Bewegungsablauf. Selbst ein Cellospieler wird bei ihm zum Ausbund an Bewegung. Man erkennt zwar den Spieler mit seinem Instrument, aber die vielen Linien, aus denen sich dieses Porträt zusammensetzt, wirken zugleich wie die Bewegung gewordene Musik, die er spielt – Klang, Rhythmus, Virtuosität des Instrumentalisten werden hier eins.
Dieses Einswerden unterschiedlichster Ausdrucksebenen fand er auch auf der Ballettbühne, nicht auf der klassischen von Schwanensee, sondern bei den legendären Ballets Russes von Serge Diaghilev. Von dieser Truppe hielt er in Grafikzyklen gleich zwei Produktionen fest und spann, wie der vorzügliche Katalog darlegt, die Geschichte weit über das Geschehen, wie es die Choreographen ausgedacht hatten, weiter. So war er Chronist des tänzerischen Zeitgeschehens und zugleich Schöpfer eigener Tanzwelten. Die Ausstellung führt in die Atmosphäre dieses tänzerischen Universums zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Charlestonkleidern ebenso ein wie mit Skizzen der großen Mary Wigman für eine Choreographie von Carl Orffs Catulli Carmina und dem Bananentanz der Josephine Baker.
Die Erfüllung natürlichen Tanzes fand er möglicherweise bei seinem kurzen Aufenthalt in der Südsee. Auch hier war er wieder Chronist, etwa wenn er bestimmte Tänze der einheimischen Bevölkerung malerisch festhielt, den Mondscheintanz oder den Hahnentanz. Zugleich aber gestaltete er perfekte Kompositionen, die das Einswerden von nackten Körpern, Bewegung und rituellem Tanz zeigen. Mit „Tanz!“ ist die Ausstellung überschrieben. Sie hätte auch heißen können: Natur in Bewegung als künstlerisches Prinzip.
„Tanz! Max Pechstein: Bühne, Parkett, Manege“, Kunsthalle Tübingen bis 15.3.2020, Katalog 182 Seiten, 28 Euro