Nichts sei konkreter als eine Linie, eine Farbe und eine Oberfläche, so formulierte es Theo van Doesburg 1930 in seinem Manifest der konkreten Kunst und legte damit den Grundstein für eine Kunstrichtung, die völlig auf gegenständliche Beschreibung, Emotion oder subjektiven Ausdruck verzichten sollte zugunsten einer reinen Form. Sie hat bis heute nichts an Faszination verloren, obwohl sie dem Betrachter nicht immer leicht zugänglich ist, entwerfen die Künstler in ihr doch meist mathematisch fundierte Systeme, deren Möglichkeiten sie dann austesten. Seit dreißig Jahren hat sie in Reutlingen in einer auf der Privatsammlung von Manfred Wandel basierenden Stiftung ein international renommiertes Forschungsforum. Jetzt sind Teile davon durch eine Schenkung in die Sammlung des Kunstmuseums Reutlingen übergegangen, deren neue Sparte „Kunstmuseum Reutlingen / konkret“ nun einen ersten Überblick präsentiert: „Arbeiten aus System.“
Konkreter geht es kaum mehr, was Vera Molnar seit 1959 machte. Mithilfe kurzer schwarzer Linien schuf sie auf weißem Grund geometrische weiße Flächen. Die Grundform ist ein M, zu Ehren von Kasimir Malewitsch, dessen schwarzes Quadrat die Kunst des 20. Jahrhunderts revolutionierte, und dieses M spielt sie systematisch durch – erst korrekt aufrecht, dann zweimal jeweils um neunzig Grad gedreht, bis es wieder aufrecht steht. Das Ergebnis: Ein regelmäßiges Muster, in dem sich Diagonalen herausschälen. Auf einem zweiten Blatt hat sie die Abfolge der Buchstabendrehung etwas variiert, das Muster drehte sich um neunzig Grad, und auf einem dritten wurde die Systematik noch komplizierter, offenbar so kompliziert, dass das System an seine Grenzen stieß. Es entwickeln sich chaotisch anmutende Stellen im Muster. Ist eine Systematik zu komplex, verkehrt sie sich, so könnte man schlussfolgern, in ihr Gegenteil.
Auch Anton Stankowski ging streng systematisch vor. Formal ist sein System einer Farbharmonie geradezu simpel: Schräge Diagonalen – oben rot, unten blau – überkreuzen vier farbige Quadrate. Von Bild zu Bild mischte Stankowski den Farben erst immer mehr Weiß zu, die Farben verblassen, dann immer mehr Schwarz. Dann wechseln die Farben der Quadrate. Soweit ist das perfekte Systematik. Doch dann mischen sich plötzlich einzelne andersfarbige Diagonalen ein, immer mehr, und man sucht nach deren Systematik. Das könnte ein erster Ausbruch aus dem System sein. Für das letzte Bild wählte Stankowski gar ganz neue Farben – eine Betonung der individuellen Freiheit des Künstlers, der eben kein mathematischer Systematiker ist.
Systeme können also dazu da sein, durchbrochen oder zumindest geöffnet zu werden. Hartmut Böhm wählte als Formelemente T-Stahlträger. Aus jeweils acht von ihnen setzte er Quadrate zusammen und spielte alle Möglichkeiten exakt durch. Doch die Teile bleiben an den Enden unverbunden, als seien es Spielzeugteile oder als lägen sie nur probehalber da. Das System ist mutiert zum Spiel mit der Geometrie.
Ein solches Spiel kann auch ironisch ausfallen. Christian Wulffen nahm sich Holzspanplatten, die er mit Löchern zum Schrauben versah. Der Ausstellungskurator kann sie zusammenbauen, wie er will. Kleine Zahlen neben den Löchern scheinen eine Bauhilfe zu gewähren, sind es aber bei genauem Hinsehen nicht. Wulffens Spanplatten wirken wie ein ironischer Kommentar zum Aufbau von Ikea-Regalen.
Eine größere Offenheit für den Betrachter, der das Spiel vor seinem geistige Auge durchexerzieren kann, gibt es kaum mehr. Oder doch? Dimitry Orlac hatte offenbar vor, mit Bleistift eine Fläche perfekt schwarz zu gestalten, aus lauter dünnen Strichen. Das System hinter dieser Arbeit ist – seine Arbeit und die Zeitspanne, die sie in Anspruch nahm. Graphitstaub vom Anspitzen der Stifte liegen in kleinen Behältnissen dabei und neben der schwarzen Bildfläche hängt auf einem Blatt Papier, auf dem wie in einem Tagebuch genau die sich über mehrere Wochen erstreckende Arbeit angegeben ist. Das System hinter dieser Arbeit ist gewissermaßen die Frage: Wann ist ein Bild fertig? Und ist es auch tatsächlich fertig?. Denn es finden sich allenthalben kleine weiße Punkte, wo der Stift neu angesetzt wurde.
Noch zufälliger ging Steffen Schlichter vor. Er umwickelte Spanplatten mit handelsüblichen farbigen Klebebändern. Das Bild war fertig, wenn das Klebeband aufgebraucht war, und siehe da: nicht alle Rollen enthielten die identische Länge an Klebeband.
Auch Bernard Aubertin befasste sich mit der Frage, wann ein Bild fertig ist – auch das ist ein wichtiger Aspekt eines Systems. Er malte lauter rote Farbschichten übereinander, am Rand kann man die Schichten noch erkennen. Doch nicht erkennen kann man, dass er dreimal jeweils dreiunddreißig Schichten verschiedener Rottöne übereinander gemalt hat. Das Ergebnis ist natürlich rot, aber nur dem Künstler ist bewusst, dass hier unterschiedliche Rottöne übereinander liegen. Und auch nur ihm ist klar, warum einige Arbeiten, deren Oberfläche schwarz glänzt, den Titel Grau tragen – Monochrome Gris. Er hat nämlich jeweils übereinander abwechselnd eine Fläche schwarz und weiß lackiert. Das ergäbe grau, wenn die oberste nicht aus undurchsichtigem Schwarz bestünde. Angesichts dieses Bildtitels ist hier die Fantasie des Betrachters gefragt.
So auch bei Norbert Kricke. Er hat kleine Quadrate mit energisch wirkenden Linien überzogen und an die Wand gehängt. Jedes Blatt ist ein Unikat, entwickelt seine eigene Energetik – und doch stellt man sich als Betrachter die Frage, ob die kleinen Quadrate nicht Teile einer großen Gesamtkomposition sein könnten. Sie sind es nicht, aber man sucht das System – und ist verblüfft, vielleicht auch amüsiert, wie überhaupt in der ganzen Ausstellung ob der Tatsache, dass Systeme, die man doch gern als in sich ruhend und starr empfindet, derart anregend und unterhaltsam sein können.
Arbeiten aus System. Konkrete Kunst 1954 – 2011“. Kunstmuseum Reutlingen / konkret. Eberhardstraße 14, Reutlingen bis 27.1.2019. Katalog 95 Seiten, 10 Euro