Sie sind stark schematisiert, übersichtlich und dienen der Orientierung: Stadtpläne erlauben selbst dem Ortsunkundigen zielgerichtete Fortbewegung in einem urbanen Ambiente. Freilich suggerieren sie nicht selten ein Ordnungssystem, das sich dem Flaneur im Dschungel der Straßenschluchten nicht offenbart. Somit sind sie Ordnungsinstrument und zugleich artifizielles Konstrukt. Mit diesem Widerspruch arbeitet die 1979 in Polen geborene Renata Jaworska. Die Städtische Galerie Villingen-Schwenningen zeigt eine Auswahl ihrer Werke unter dem bezeichnenden Titel Verortung.
Der erste Eindruck scheint eindeutig: Renata Jaworska zeichnet Stadtpläne, und in der Tat lässt sie sich zu ihren Bildern von realen Orten und ihren Plänen inspirieren. Aber schon beim zweiten Blick ergeben sich Zweifel. Während auf einem gedruckten Stadtplan die Hauskörper als kleine schwarze oder graue Vierecke eingezeichnet sind, finden sich auf ihren Bleistiftzeichnungen stattdessen lediglich zwei, drei kurze Striche. Was aus einiger Entfernung kompakt wirkt, wird aus der Nähe fragil. Der erste Eindruck des systematischen Porträts einer Ortschaft wird abgelöst durch die Erkenntnis, dass man es hier mit reiner abstrakter Zeichnung und Malerei zu tun hat.
Über das angebliche Geflecht von Straßenzügen und Hauskörpern legt die Künstlerin noch ein Geflecht aus Linien, das mit dem Plan nichts zu tun zu haben scheint. Es könnten Bewegungslinien sein, die Verbindungen zwischen einem Startpunkt und Zielpunkt der Bewohner dieses Ortes. Diese Deutung wird unterstützt durch ein Projekt der Ausstellung, denn die Besucher erhalten einen Stadtplan von Villingen-Schwenningen ausgehändigt, in den sie ihre gewohnten oder auch beliebtesten Wege durch die Stadt einzeichnen können. Daraus wird die Künstlerin am Ende ein neues Bild erstellen. Damit würde aus den statischen Stadtplänen ein Resümee der Bewegungen in dieser Ortschaft – Bewegungen, die allerdings nur mit starren Linien angedeutet werden. Auf diese Weise überlagert sich das System des Stadtplans mit dem des Lebens in dieser Stadt.
Doch dann finden sich weitere Linien, diesmal nicht mit dem Lineal gezogen, sondern freihändig, meist dicker, auch farbig, als mäanderten fremde Wesen über diesen Stadtplan und spielten mit dem System.
Dieses Spiel zeigt sich vor allem bei Bildern, auf denen sie Vogelschwärme eingezeichnet hat. Von den Flügelspitzen der Tiere hat sie wieder exakte Linien gezogen. Das erweckt abermals zunächst den Eindruck extremer Systematik und Ordnung – und führt doch ähnlich wie bei den Linien über den Stadtplänen zu Verunsicherung. Denn während Vogelschwärme geordnet sind, pervertieren diese Linien die Ordnung. Unsere Vorstellungen von System und Unordnung, ja Undurchsichtigkeit, Planlosigkeit vermischen sich.
Hinzu kommt, dass Renata Jaworska die „Hausansammlungen“ nicht, wie bei einem Stadtplan üblich, in die Mitte der Blätter setzt, sondern die Ortschaften nur wie angeschnitten präsentiert, als schiebe sich ein zivilisatorisches Gebilde unabsichtlich in eine unberührte Landschaft. Ist im Stadtplan der Ort zentral, scheint er hier unwichtig geworden, wie von der Schöpfung nicht vorgesehen. Damit verliert der Mensch, der die Ortschaften als Heimat empfindet, gewissermaßen seine „Ortsberechtigung“. So mutieren die Bilder unversehens zu symbolischen Fragen nach der Zugehörigkeit.
Allenthalben durchkreuzt die Künstlerin unsere im Alltag als so gesichert empfundenen Orientierungen. Auf einem Bild hat sie die Wörter Ost und West eingefügt, aber nicht, wie in unserem kartographischen Verständnis üblich, rechts und links, sondern unten und oben auf dem Gemälde. Alle Ordnungsvorstellungen geraten ins Wanken. Was wie ein Stadtplan wirkte, ist eine Auseinandersetzung mit unseren Vorstellungen von Ordnung, Systematik und Orientierung, sie kippen bei längerer Betrachtung dieser Bilder in ihr Gegenteil um – und das alles mit dem zeichnerischen Mittel, das wie kaum ein anderes für Direktheit steht: der geraden Linie. Aber was auf den Bildern von Renata Jaworska verbunden wird, bleibt offen. Das System, mit dem wir gern unsere Existenz regeln, bricht in sich zusammen.
„Renata Jaworska. Verortung“, Städtische Galerie Villingen-Schwenningen bis 28.7.2019. Katalog 112 Seiten, 25 Euro