Jahrhunderte hindurch prägte die Kirche das Kunstgeschehen. Sie war die wichtigste Auftraggeberin, und folglich bestimmte sie auch die Inhalte der Malerei und Bildhauerei. Doch auch nachdem sich die Künstler von ihrem Handwerkerstatus im Dienst der Kirche emanzipiert hatten und sich um sie sogar ein Geniekult entwickelt hatte, malten sie Motive aus der Bibel. Rembrandt schuf gar einen ganzen Passionszyklus ohne kirchlichen Auftrag, und Rubens dürfte seinen hl. Sebastian in erster Linie für sich gemalt haben. Im 20. Jahrhundert, als sich die Malerei zwischen den Polen gegenständlich und ungegenständlich bewegte, komplizierte sich das Verhältnis zwischen Glaube und Kunst, wie jetzt eine Ausstellung von Plastiken von Siegfried Haas in der Rottweiler Lorenzkapelle zeigt: Kunst und Glaube.
Ecce Homo, 1989, Foto: U. Schäfer-Zerbst
Dass Siegfried Haas eine klassische Bildhauerausbildung genossen hat, kann man schon am Eingang zur Rottweiler Lorenzkapelle sehen. Da steht ein Torso aus Bronze, und Haas hat sich genau mit diesem in sich so widersprüchlichen Motiv auseinandergesetzt. Er macht die Fragmentarität deutlich, die dieser Rumpf ohne Kopf und Gliedmaßen ausdrückt. Zugleich gelingt es ihm durch einen raffinierten Ansatz von Hals, Armen und Beinen, den Eindruck eines vollständigen Körpers zu erwecken – fragile Fragmentarität und in sich ruhende Körperlichkeit.
Dass Haas ein zutiefst gläubiger Künstler war, zeigt die Plastik daneben, eine symbolische Darstellung der Dreifaltigkeit: Drei Figuren umschlingen sich eng und bilden eine untrennbare Einheit, bleiben jedoch jeweils in sich selbstständige einzelne Figuren. Haas trug sich als junger Mann mit dem Gedanken, Franziskaner zu werden, entschied sich dann aber doch für die Kunst. Geht man um diese Plastik herum, zeigt sich, wie vollendet er diese Dreieinigkeit gestaltet hat. Da passt kein Blatt zwischen die drei Figuren, die dennoch deutlich sichtbar bleiben.
Wie sehr sein Glaube ihn geprägt hat, macht sein ganzes Schaffen deutlich. Er hat zahlreiche Kirchen ausgestaltet, und die Ausstellung zeigt, dass er sich allen traditionellen religiösen Motiven gewidmet hat. Wir sehen eine Muttergottes mit Kind, wir sehen eine Abendmahlszene, ein Relief, das die Kreuzigung Jesu in faszinierend graphischer Form darstellt: Das ganze Geschehen zeichnet sich in metallisch glänzenden Bronzelinien ab. Haas fand immer wieder neue Ausdrucksformen, und er bezog sie aus seiner intimen Kenntnis der Bibel.
David, Foto: U. Schäfer-Zerbst
Sein David zum Beispiel verbindet die Jugendlichkeit dieser Figur mit seiner Königswürde zu einer untrennbaren Einheit.
Doch bei all seiner Gläubigkeit wäre es falsch, in diesen Plastiken rein religiöse, gar Kirchen-Kunst zu sehen. In jeder dieser Arbeiten fand Haas die menschliche Komponente. Sein David ist ein jugendlicher Held, hat aber zugleich etwas Suchendes an sich. Seine Madonna mit Kind kann man ebenso gut als reines Symbol der Mutterschaft, der innigen Verbindung zwischen Mutter und Kind deuten. Sein Abendmahl ist letztlich nichts anderes als eine gemeinsame Mahlzeit zwischen zwei Menschen. Selbst sein Gekreuzigter ist mehr Jedermann als Jesus Christus, es ist ein Mensch wie du und ich im Leiden. Dieses Leiden hat Haas immer wieder gestaltet. In seinem Relief zum Kreuzweg, auf dem Jesus ja mehrmals unter dem Kreuz zusammenbricht, scheint hier das Kreuz übermächtig den schmächtigen Körper zu erdrücken. Kein Wunder, dass sich Haas sehr für die Opfer des Nationalsozialismus eingesetzt hat und für die Gedenkstätte Eckerwald mehrere Arbeiten geschaffen hat. Eine davon steht für die Verlassenheit der Opfer. Sein Gefangener ist mit den Knien in der Erde gefangen, ein Entkommen scheint unmöglich, sein Gesicht drückt absolute Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung aus. Seine Arbeit mit dem Titel Ich fliehe – ich fliege legt Hoffnung nahe, doch ob der Fluchtversuch von Erfolg gekrönt ist, bleibt fraglich. Auch sein Torso vor der Lorenzkapelle ist mehr als nur der Rückgriff auf eine alte Form. Ecce Homo nennt Haas die Arbeit, nach einem in der Bibel zitierten Ausspruch von Pontius Pilatus, auf den hin das Volk die Verurteilung Christi fordert – ein zwiespältiger Titel wie die Form der Arbeit selbst. Haas war ein zutiefst human geprägter Künstler, ein „Humanist“ im wahrsten Sinn des Wortes, der stets das Menschliche auch in den eng der Bibel folgenden Arbeiten suchte und fand. Das zeigt auch die „Dreifaltigkeitsplastik“. Drei-Einheit nennt er sie, und sie ist eigentlich – ähnlich wie die Abendmahlszene – eine Arbeit über menschliche Gemeinschaft.
Die Arbeiten sind in der Lorenzkapelle in die Dauerausstellung mit Beispielen Rottweiler Steinmetzkunst aus dem 15. und 16. Jahrhundert integriert. Dem Team um Kurator Bernhard Rüth und Martina Meyr, Leiterin des Rottweiler Dominikanermuseums, ist es gelungen, Haas‘ Werke in einen Dialog mit den Relikten sakraler Kunst zu setzen.
Madonna mit Kind, Foto: Norman Denkert
Die Madonna steht an der Stelle, an der sich der Hauptaltar befunden hatte und wo sonst eine Madonna aus dem 15. Jahrhundert steht. Der Gekreuzigte steht auf einem anderen Altar. Der wie eine Weinrebe gestaltete Kandelaber ist so platziert, dass sein Rankenwerk sich in dem Rest einer alten ornamentalen Wandmalerei fortsetzt. Selbst seine Brunnenstele ist in Korrespondenz zu alten Brunnenstelen gesetzt.
Haas‘ gesamtes Schaffen ist nicht Kirchenkunst, sondern eine Synthese von Glaube und reiner Kunst. Der Ort und die Art, wie seine Werke hier präsentiert werden, dürften dem 2011 verstorbenen Künstler gefallen haben.
„Siegfried Haas in der Lorenzkapelle Rottweil. Kunst und Glaube“ bis 1.8.2021. Katalog 76 Seiten, 15 Euro