Boris Vian war ein Tausendsassa: Französischer Chansonnier, Jazztrompeter, Romancier, Dramatiker – und stets sorgte er für Aufsehen, weil er gegen alle Konventionen verstieß. 1947 erschien sein Roman „Der Schaum der Tage“ – damals kaum beachtet, zählt er heute zu den Kultromanen der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts – ein Roman, in dem sich Fantasy, Comic und Satire auf den Existentialismus mischen. 1981 verarbeitete der russsische Komponist Edison Denisov den Roman zu einer Oper, die allerdings nur selten aufgeführt wurde. Denisov zählte zu den Avantgardisten unter den russischen Komponisten, daher blieb ihm die Anerkennung des sozialistischen Regimes versagt. Vor fünf Jahren hat sich der Intendant der Stuttgarter Staatsoper, der Regisseur Jossi Wieler, zusammen mit seinem ständigen Co-Regisseur Sergio Morabito des Stoffs angenommen. Jetzt ist die Oper wieder im Repertoire.
Am Ende betreten elf blinde Mädchen die Bühne und intonieren ein Lied. Es ist der Endpunkt einer Reise in die Finsternis, den Edison Denisov hier mit diesen zarten Tönen andeutet, denn im Hintergrund wartet eine Katze darauf, dass ihr jemand auf den Schwanz tritt, und die blinden Mädchen werden das ganz gewiss tun – dann wird sie zubeißen und der Maus, die zwischen ihren Zähnen ruht, ein Ende bereiten. Das entspricht ganz dem Ende von Boris Vians Roman. Dabei hatte alles so heiter angefangen. Vians Roman ist ein Märchen, das keine Grenzen kennt, vor allem keine Grenzen der Logik. Da kriechen Aale durch den Wasserhahn in bürgerliche Wohnungen, da werden Cocktails von einem präparierten Klavier gemixt – der Ästhetizismus des Fin de Siècle läßt grüßen. Entsprechend farbig ist die Musik, die Denisov zu diesen Szenen komponierte.
Wollte man die geradezu anarchisch sprudelnde Phantasie von Boris Vian eins zu eins umsetzen, müsste man alle Möglichkeiten einsetzen, die das Medium Film zu bieten hat, vor allem der Trickfilm. Mit rasanten Schnitten, wie sie nur der Film vermag, wird der Leser von einer Szene in die andere katapultiert. War er gerade noch bei der Aalpastete, die Colin seinem Freund Chick vorgesetzt hatte, befindet er sich ein paar Zeilen weiter auf der Eisbahn – in der Stuttgarter Inszenierung werden solche raschen Wechsel mit Projektionen bewältigt, wir sehen nur, wie ein paar Schlittschuhe ihre Bahnen ziehen, und hören dazu die passend elegante Musik von Denisov.
Während Boris Vian in seinem Roman eine fast schon psychedelisch anmutende Traumwelt vor den Augen des Lesers heraufbeschwört, sehen wir bei Jossi Wieler und Sergio Morabito eine Alltagswelt junger Freunde. Die surrealen Ebenen eröffnen sich durch Projektionen, durch plötzliche Öffnungen im hinteren Bühnenprospekt – und durch die Musik. Ist Vians Roman ein Kaleidoskop literarischer Anspielungen, so mischt Denisov unablässig Zitate in seinen eigenen Musikkosmos. Da darf auch Wagners Tristan nicht fehlen.
Am Ende sind drei der vier Freunde tot, der vierte psychisch am Ende. Und auf der Stuttgarter Bühne endet ein opernästhetisches Gesamtkunstwerk, in dem die Musik subtil auf die Romanvorlage eingegangen ist und die Regie beide kongenial zusammenführt.