Nur ein Prozent der Deutschen hat Grau zur Lieblingsfarbe erkoren – kein Wunder: Zwar werden mit diesem Gemisch aus Schwarz und Weiß auch Würde oder Weisheit assoziiert, meist jedoch Eintönigkeit, Langeweile, Einsamkeit – oder auch das Grauen. Für den Maler Ben Willikens wohl Letzteres, was möglicherweise auf ein traumatisches Erlebnis in seiner Kindheit zurückzuführen ist, und es blieb nicht das einzige Trauma, das sich seinem Gedächtnis eingegraben und sein Schaffen geprägt hat. Wie zentral das Gedächtnis für diesen Künstler ist, macht das Schauwerk Sindelfingen jetzt bereits im Titel einer großen Retrospektive deutlich: „Ben Willikens. Raum und Gedächtnis“.
Es ist eines der berühmtesten Gemälde der Welt, auch wenn die wenigsten Leonardo da Vincis Fresko mit der Abendmahlsszene Christi im Original gesehen haben dürften. Doch die Figurengruppe mit Christus im Zentrum der exakt perspektivischen Darstellung ist vertraut. Umso befremdlicher, wie Ben Willikens 1976 dieselbe Szene präsentierte. Man erkennt den Raum, den Tisch im Vordergrund, den Blick hinten aus dem Fenster. Doch das, worum es im biblischen Sinn geht, das Abendmahl, die heilsgeschichtlich relevante Szene, fehlt: Willikens hat das Bild entmenschlicht und entgöttlicht, er hat gewissermaßen ein Symbol des Verlusts jeglicher Heilszuversicht auf die Leinwand gebracht, und das alles in Grautönen. Mehr noch: wo sich bei Leonardo hoffnungsfroh ein Blick in die freie Natur andeutet, ist bei Willikens Leere, wenn auch hell strahlend, und die Türen rechts und links, bei da Vinci locker durch Vorhänge verdeckt, sind bei Willikens Stahltüren. Aus diesem Raum entkommt niemand. Ein Bild absoluter Desillusionierung.
Bilder ohne Menschen waren bei diesem Maler nichts Neues. Selbst als er in den 70erJahren Räume malte, die eigens dafür geschaffen wurden, Menschen aufzunehmen, nämlich Sanatorien, Krankenhäuser, psychiatrische Anstalten, ließ er die Bewohner weg, angesichts der Räume, die er da malte, sollte man allerdings eher sagen: Insassen, denn Willikens malte jene freudlosen, menschenabweisenden Räume, wie sie in solchen Institutionen in jenen Jahren durchaus noch zu finden waren, und er wusste, was er da malte, er hatte selbst ein Jahr in einer psychiatrischen Anstalt zubringen müssen.
Seine Bilder zeigen lediglich die Räumlichkeiten und das Inventar: Bahren, nüchterne metallene Waschbecken, kahle Birnen anstelle von Lampen. Willikens malte eine kalte, unmenschliche Welt, seine Anstaltsbilder waren Symbole einer Nachkriegsarchitektur, die sich zwar vordergründig an die Architektur des Bauhauses anlehnte, die aber statt raffiniert konstruierter moderner Bauweisen lediglich Massenunterkünfte in Hochhaussilos bot – Kälte statt Wärme.
Bei all dem dominierten Grautöne, Farbe suchte man in diesen Bildwelten vergebens. Willikens erlebte als kleiner Junge die Bombardierung seiner Heimatstadt Leipzig, und der herabfallende Ascheregen auf die verschneiten Straßen hatte sich ihm unauslöschlich eingeprägt, so wie es später der Klinikaufenthalt tun sollte. Grau war für ihn auch die „Farbe“ dieser Zeit und Gesellschaft, die die soeben „besiegte“ Vergangenheit verschwieg, statt sie zu verarbeiten. Er öffnete mit diesen Bildern die Augen – und zeigte in einer späteren Serie jene Architekturen, die die Nazis zur Verherrlichung ihrer Machtideologie errichteten, vor allem in Nürnberg für ihre Parteitage. Er machte mit diesen Gemälden deutlich, dass diese Bauten zwar erdacht waren zur Verherrlichung derer, die da oben standen, auf der Rednertribüne, dass sie aber mit ihrer Geometrie durchaus auch etwas Verführerisches an sich hatten.
Und zwanzig Jahre danach wandte er sich noch einmal dieser so genannten „jüngeren Vergangenheit“ zu, malte nun das Machtzentrum, das Hitler sich auf dem Obersalzberg errichten ließ, jenen Berghof mit einem gigantischen Panoramafenster. In dieser Serie finden sich auch Rückgriffe auf seine „Anstaltsbilder“, die nun aber gespenstischen medizinischen Laboratorien ähneln.
In diesen Serien gestaltete Willikens Raumwelten, in denen Leben nicht möglich, zumindest nicht erstrebenswert ist. Hatte er sich bei den Anstaltsbildern und den der Naziarchitektur gewidmeten Arbeiten auf reale Bauwerke gestützt – auch wenn er sie beileibe nicht „porträtierte“ -, so entwickelte er zwischen den beiden Serien Raumwelten, die nichts mit der Realität zu tun haben. Es sind Raumgebilde, die ganz seiner Fantasie entsprungen sind – große Räume, Säle gigantischer, aber nicht einschüchternd wirkender Bauwerke, in die meist von der Seite Licht einströmt, ohne dass man genau wüsste, woher dieses Licht käme; Fenster sieht man selten. Auf den ersten Blick scheint man sich in der Welt dieser Räume auszukennen, alles scheint vertraut: Wände stehen lotrecht da, Öffnungen bieten Auswege, Treppen führen nach oben oder unten, Geländer bieten Stützen. Und doch umweht all diese identifizierbaren „Gegenstände“ etwas Rätselhaftes. Warum befindet sich in dem einen Raum ein rechteckiges Loch in der Mitte, als sei es ein leergepumptes Schwimmbecken, was es nicht ist. Warum führt ein geschlängelter Schlauch in dieses „Becken“, der doch kein richtiger Schlauch ist. Alles, was an diesen Räumen raumhaft vertraut wirkt, ist in Wirklichkeit reines Konstrukt.
Das große Gemälde Raum 1628, Melancholia ist der Inbegriff dieser Werkserie, die Willikens konsequenterweise „Gegenräume“ nannte. Da scheinen Glasscheiben schräg an der Wand zu lehnen, Stäbe – warum, ist nicht erfindlich. Sie werfen auch Schatten. Doch woher kommt das Licht, das solche Schatten rechtfertigen könnte? Eine Kugel scheint von innen heraus zu leuchten, doch müsste sie dann Licht verströmen, hier wirft sie jedoch einen Schatten zur Seite hin. Balken schieben sich dem Betrachter entgegen, und Willikens greift die alte barocke Tradition auf, bei der ein Augenpaar bei einem Porträt der Bewegung des Betrachters zu folgen scheint. Hier scheinen die Balken ihre Richtung zu verändern, wenn man am Bild vorübergeht.
Willikens spielt hier mit den Möglichkeiten der zentralperspektivischen Raumdarstellung. Zugleich gelingt ihm ein kunsthistorischer Spagat. Streng genommen sind das keine Raumbilder, sondern konstruktivistische Gemälde. Was wie eine Glasscheibe an der Wand erinnert, ist reine gemalte Fläche, ein Stab nichts als eine Linie. Doch während der Konstruktivismus des frühen 20. Jahrhunderts eine flächige Kunst war, wird sie bei Willikens dreidimensional, erhält sie räumliche Tiefe. Diese Bilder bringen den Konstruktivismus der Moderne mit der jahrhundertelang gültigen Zentralperspektive zur künstlerischen Synthese. Dem Betrachter wird vorgeführt, was Raumdarstellung alles vermag.
Ben Willikens, Raum 1321, Studio Piet Mondrian, Paris, 2017, Foto: Michael Steinle, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Dass er sich dann in letzter Zeit ganz dieser Moderne widmete, war nur konsequent. So malte er Räume, die Künstler wie El Lissitzki oder Piet Mondrian entwarfen, neu, einerlei, ob diese Räume tatsächlich realisiert wurden oder ob sie nur als Modell existierten. In diesen Bildern erweckt Willikens stets den Eindruck, reale Räume abgemalt zu haben, und schuf zugleich Raumbilder, die wie die Gemälde etwa eines Mondrian wirken. Wenn er Bauwerke von bedeutenden Architekten der Moderne aufgreift, zeigt er, dass deren Gestaltungsprinzipien letztlich denen der Naziarchitekturen so unähnlich gar nicht sind: klare Geometrie als Prinzip. Doch während die Nazis geometrische Strukturen als Einschüchterungsarchitektur verwendeten, wurden sie unter der fantasievoll planerischen Hand eines Mies van der Rohe oder Richard Neutra zu Symbolen der Freiheit: Das Auge kann ungehindert schweifen.
Und von daher erhalten auch seine frühen Bilderserien eine ganz andere Bedeutung. Denn auch dort hat er nie Abbilder realer Räume geschaffen, sondern Konstrukte. Er hat die Naziarchitekturen rekonstruiert und von allem alltäglichen Beiwerk wie Staub oder Geröll gereinigt, er hat nicht konkrete reale Klinikräume porträtiert, sondern stets deutlich gemacht, dass es sich um Malerei handelt, indem er Flecken oder Striche einfügte, die nichts mit einem Raumabbild zu tun haben.
Und auch seine „Gegenräume“ sind voller Hinweise darauf, dass es sich um reine Malerei handelt. Die Perspektive, die sich nach hinten verjüngen, verengen müsste, weitet sich meist bei ihm, und hier und da findet sich auch ein unregelmäßiger Pinselstrich, der mit dem Raumbild nicht das Geringste zu tun hat.
Die Raumwelten von Ben Willikens sind reine Malerei, vereinen jahrhundertealte und sehr junge Kunsttraditionen zur Synthese und stellen den Betrachter immer wieder vor die Frage: Was meinst du, hier zu sehen? Oder täuschst du dich? Und was vermag ein Bild nur aus Farbe, Linie und Fläche alles hervorzurufen? Es ist eine zutiefst aufklärerische Malerei – in Zeiten wuchernder Fakenews von unschätzbarem Wert. Man muss nur die Augen haben, zu sehen.
„Ben Willikens. Raum und Gedächtnis“, Schauwerk Sindelfingen bis 12.2.2023. Katalog 280 Seiten, 38 Euro
Lieber Herr Zerbst,
herzlichen Dank für den Artikel über die Ausstellung Ben willekens im Schauwerk Sindelfingen. Ich hatte sie schon vor Weihnachten besucht und war von den Bildern wieder ungemein angesprochen. Unfassbar, was man mit der „Farbe Grau“ alles darstellen kann!
Gerne möchte in diesem Kontext auf die Kirche St. Hedwig in Stgt-Möhringen hinweisen. Ich glaube / fürchte, dass den wenigsten bekannt ist, dass Willekens dort einen imaginären, faszinierenden Chor-Raum geschaffen hat. Siehe Website unten.
Herzlioche Grüße
Ihr
Andraes Keller