Sehen wir, was ist? Die Kunst des Hans Jörg Glattfelder

Etwas Konkreteres als Linie, Farbe und Oberfläche gebe es nicht, so meinte Theo van Doesburg und begründete damit 1930 die Konkrete Kunst. Sechs Jahre später fand dieses Manifest bei einer Gruppe von Künstlern in Zürich ihren Widerhall, und auch das Manifest von Max Bill betonte eine Kunst, die ganz ihren eigenen Gesetzen gehorchen solle, fern jeder Naturerscheinung. Allerdings fügte er den beiden Mitteln Farbe und Form noch drei hinzu: Raum, Licht und Bewegung. Die Schule der Zürcher Konkreten war geboren. Drei Jahre danach kam Hans Jörg Glattfelder zur Welt und ließ sich als junger Künstler von dieser Kunst inspirieren. Das Museum Ritter zeigt nun eine Retrospektive.

Hommage an Richard Paul Lohse nannte Hans Jörg Glattfelder 2002 eine Arbeit, aber statt der rechtwinkligen bunten Quadrate, die man von diesem Meister der Zürcher Konkreten gewohnt ist, scheinen hier rautenförmige Gebilde schräg nach oben zu flattern, manche vom Wind leicht gewellt. Mit dieser Hommage erinnerte Glattfelder daran, wie sehr ihn die konkrete Kunst fasziniert hat, und in den 60er Jahren schuf er auch Bilder ganz streng in deren Sinn.

So arbeitete er in neununddreißig Zeichnungen alle möglichen Variationen durch, die sich aus jeweils zwei blauen, schwarzen und roten senkrechten Streifen ergeben. Zuerst, indem er die Farben abwechselte, dann, indem er die Streifen unterteilte. Doch was konkrete Künstler der ersten Generation vermutlich mit mathematischer Exaktheit systematisch durchexerziert hätten, bekommt bei seinen Esercizi etwas geradezu Spielerisches. Die Streifenteile scheinen tanzen zu wollen, und das sollte von da an ein wesentliches Charakteristikum seiner Kunst werden. Bei aller gedanklichen Strenge und Präzision wirken Glattfelders Arbeiten leicht und sehr sinnlich. Durch seine Unterteilung der Streifen scheinen sie aus der Reihe tanzen zu wollen, in den Raum nach vorn oder nach hinten. Schon hier hat Glattfelder die Kategorie ernst genommen, die Max Bill in seiner Definition betont hatte: den Raum.

Kurze Zeit danach kam auch noch die Kategorie Bewegung hinzu. Glattfelder verließ die zweidimensionale Bildfläche, klebte Lamellen auf die Grundfläche und färbte sie unterschiedlich ein. Dadurch regte er den Betrachter an, vor den Bildern auf und ab zu gehen, und sie scheinen dabei „lebendig“ zu werden. Alles Feste, was sonst die Konkrete Kunst ausmacht, geriet unter seinen Händen ins Fließen – vor allem das Farbgeschehen.

In den 70er Jahren schuf er aus Kunststoff Pyramidenreliefs und färbte die Seiten der in Reih und Glied angeordneten Pyramiden unterschiedlich ein. Geht man vor diesen Reliefs auf und ab, changieren die Bilder – von Gelb über Zwischenstufen zu Grün. Damit hatte Glattfelder längst nicht nur die Konkrete Kunst erweitert, sondern den Bildbegriff insgesamt. Der Betrachter ist nunmehr nicht nur rezeptives Gegenüber, sondern partizipativer Teil des Kunstwerks.

Und das ist das zweite Charakteristikum dieses Künstlers: Er stellt mit seinen Arbeiten all das in Frage, was der Betrachter von Kunst gemeinhin erwartet. Das gilt auch für seine zweidimensionalen Arbeiten. Auf zwei großen hochformatigen hellen Flächen verteilte er in Reihen gleich große Quadrate, auf dem einen Bild oben in Blau, darunter in Grau – insgesamt jeweils fünf mal fünf, ergänzt durch sechs mal sechs unterschiedlich große Quadrate. Auf dem anderen Bild dasselbe Spiel, nur in umgekehrter Reihenfolge, also oben grau, unten blau. Damit erzielte er gleich mehrere Wirkungen im Betrachter. Zum einen geraten beide Bilder durch die unterschiedlich großen Quadrate und die Kombination von fünf mal fünf bzw. sechs mal sechs ins Flimmern. Zum zweiten neigt der Betrachter dazu, eine der beiden Anordnungen als „Ordnung“ zu betrachten, die andere als „Unordnung“ (bzw. als „richtig“ oder „falsch“). So ertappt sich der Betrachter dabei, dass er in seiner Wahrnehmung unversehens geradezu moralische Entscheidungen trifft, die rein subjektiv sind.

Damit nicht genug. Zunehmend stellte Glattfelder die Wahrnehmung an sich in Frage. So neigen wir dazu, ein rautenförmiges Gebilde auf einem Bild als „Quadrat“ wahrzunehmen, da wir das zentralperspektivische Sehen gewohnt sind. Mit einer raffinierten Anordnung verschiedener solcher Rauten macht Glattfelder auf einem Bild deutlich, dass diese „Verwandlung“ in Quadrate falsch ist. Wir müssen unsere Wahrnehmung hinterfragen. Das gilt erst recht für Bilder, die gewellt erscheinen, obwohl sie strikt zweidimensional sind. Bildfläche und Raum gehen in unseren Augen eine Verbindung ein, die real nicht existiert.

Von da war es nur ein Schritt zu Glattfelders Erkundung der Geometrie. Die Auseinandersetzung mit Albert Einstein führte ihn dazu, die euklidische Geometrie aufzugeben, also die uns vertraute Geometrie des Zwei- und Dreidimensionalen. Glattfelder schuf auf zweidimensionalen Bildflächen Gebilde, die uns räumlich vorkommen, aber von einer Räumlichkeit sind, die uns unbekannt ist. So scheinen Bilder auf uns vorstoßen zu wollen, und sind doch einfache Flächen an der Wand. Damit hat Glattfelder auch die drei Kategorien transzendiert, die Max Bill der Konkreten Kunst gedanklich hinzugefügt hat: Raum, Bewegung und Licht – und eine Kunst entwickelt, die den Betrachter nicht nur zum aktiven Mitgestalter des Kunstwerks macht, sondern auch zu einem Reflektieren des eigenen Ich herausfordert.

Hans Jörg Glattfelder. Vom Besonderen zum Allgemeinen“, Museum Ritter bis 15.9.2019. Katalog 56 Seiten, 16,80 Euro

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