Den Anfang soll eine junge Frau im antiken Griechenland gemacht haben. Weil ihr Geliebter in die Ferne ziehen sollte, zog sie die Umrisslinie des Schattens, den sein Gesicht im Lampenschein auf die Wand warf, nach. Der Schattenriss war geboren. Zur Zeit des Klassizismus, in der die Gebildeten sich gern der Antike zuwandten, war diese Anekdote sehr beliebt – und auch die Möglichkeit, Gesichter auf diese Weise naturgetreu fixieren zu können, nur nicht mehr an der Wand, sondern auf Papier: Der Schattenriss wurde zum Scherenschnitt – im 19. Jahrhundert ein populärer Zeitvertreib für junge Damen. Welche Formen diese an sich schlichte Technik annehmen kann, zeigt die Stihl Galerie in Waiblingen: Scharf geschnitten – und zwar früher und heute.
Luise Duttenhofer, Luise Duttenhofer heftet ihrem Mann Flügel an die Fersen, ab 1804. Deutsches Literaturarchiv Marbach
Scharfe Scheren und Messer muss sie gehabt haben, die Waiblingerin Luise Duttenhofer, denn ihre kleinen aus schwarzem Papier geschnittenen Figürchen weisen eine derart filigrane Detailarbeit auf, dass man kaum glaubt, dass sie ohne Zuhilfenahme moderner exakter Maschinen zustande gekommen sein könnten. Diese Scherenschnitte vereinen gleich zwei Traditionen dieser Technik. Zum einen das Ornamentale, denn im Scherenschnitt wurden häufig florale Motive dargestellt. Philipp Otto Runge, der vor allem durch seine romantisch verklärten Kinderbilder berühmt wurde, widmete sich besonders der Welt der Pflanzen, schnitt ihre Umrisse oft aus weißem Papier aus, das er dann auf schwarze Blätter klebte. Diese Arbeiten waren um 1800 sehr beliebt – und selbst in unseren Tagen lassen sich Künstler von diesem Vorbild anregen. Olaf Nicolai beruft sich auf ihn mit seinen floralen Arbeiten, die freilich nicht im Weißschnitt, sondern im üblicheren Schwarzschnitt ausgeführt sind. Außerdem faltet er das Papier vor dem Schneiden, sodass sich axialsymmetrische Scherenschnitte ergeben, gewissermaßen Rorschachtests im Scherenschnitt. Auch Marcel Odenbach beruft sich auf Runge, seine Blütenstillleben aber haben eine politische Komponente, denn sie wurden aus Zeitungsblättern geschnitten, sodass man winzige tagesaktuelle Details erkennen kann.
Das Ornamentale findet sich bei Luise Duttenhofer überall, so wirken selbst die Finger, die ein Geigenspieler über die Saiten seines Instruments bewegt, wie kleine Punktornamente. Die Waiblingerin, die mit einem Kupferstecher verheiratet war, bevorzugte allerdings die zweite, noch populärere Tradition, in der Figuren aus schwarzem Papier geschnitten wurden – berühmte Zeitgenossen wie Goethe oder Jean Paul, die sie porträtierte, aber auch Fantasieszenen, die nicht ohne hintergründigen Witz sind. Da setzt eine Ehefrau schon einmal dem Mann buchstäblich Hörner auf. Vor allem entwickelte sie eine Technik, mittels derer sie dem an sich flächigen Medium Tiefenperspektive abgewinnen konnte, etwa durch gefliesten Böden.
Diese Ausweitung des Scherenschnitts in die dritte Dimension führen die Künstler von heute weiter. Schon ein Adolf Menzel hatte mithilfe von Lampen, auf deren Schirmen Scherenschnitte appliziert waren, die reine Fläche verlassen. Esther Glück schafft diesen Sprung, indem sie mehrere Ebenen in einen Glasrahmen spannt. So ergeben sich perspektivisch genau gestaltete Bilder von Treppenhäusern, in denen Figuren die Stufen hinauf- und herabschreiten. Aber diese „Dreidimensionalität“ wird immer noch durch plane Scherenschnitte erzielt, die hintereinander gespannt sind. Fast noch raffinierter geht nach ähnlichem Prinzip Zipora Rafaelov vor. Sie spannt weiße dünne Papierstreifen zwischen zwei Glasscheiben. Durch das von außen einfallende Licht ergeben sich auf der Rückwand ihrer Bildkästen graue Linien, das eigentliche Bild.
Dieser Arbeit durchaus verwandt ist der „Typhoon“ von Katja Pfeiffer. Sie hat Pressspanplatten in scheinbar zufällige Rundungen gesägt und ineinander verschachtelt. Das ist kein Scherenschnitt, das ist eine regelrechte Holzskulptur, deren Bauprinzip die Linie ist. Eine starke Projektorlampe sorgt dafür, dass diese Holzkonstruktion einen linearen Schatten an die Wand dahinter wirft – und wir erkennen, was der Holzskulptur kaum anzumerken ist, eine Achterbahn, die der berühmten gleichnamigen Stahlkonstruktion im belgischen Freizeitpark Bobbejaan nachempfunden ist. Was wie ein überdimensionaler „Scherenschnitt“ aussieht, verdankt sich einer Plastik und, wie bei jener jungen Frau im alten Griechenland, dem Schein einer Lampe.
Birgit Knoechl hat die Zweidimensionalität ganz verlassen. Sie schneidet dickes Papier in Schleifen und Schlaufen, die sich sogleich nach vorn biegen und wölben. „Out of Control Revisited – The Autonomy of Growth“ nennt sie ihre für Waiblingen entstandene Arbeit, bei der sich eruptiv die Papierschlingen von der Wand in den Raum ergießen. Ähnlich skulptural sind die Arbeiten von Georgia Russell. Sie schneidet jeweils ein ganzes Buch in lauter dünne Streifen, so exakt und genau berechnet, dass sich daraus fantasieartige Vogelwesen ergeben.
Scherenschnitte haben Konjunktur, sie faszinieren mit ihrer Ästhetik immer noch, sodass Henrik Schrat die Anmutung eines Scherenschnitts sogar mit den Mitteln der Malerei zuwege brachte – auf der Wand des alten Rathauses von Waiblingen, unter Verwendung jener Motive, die der Besucher der Ausstellung bei Luise Duttenhofer bewundern konnte.
„Scharf geschnitten. Vom Scherenschnitt zum Papercut“, Galerie Stihl, Waiblingen bis 22.4.2018