Sie ist vielleicht der Inbegriff der romantischen Oper: Carl Maria von Webers Freischütz, angesiedelt zwischen bürgerlicher Naivität der Jägerszene und archaischen Zaubermächten. Zugleich weist sie in ihrer grandiosen Verknüpfung aller musikalischen und szenischen Elemente voraus auf Wagners Gesamtkunstwerk und stellt Fragen nach Ratio und Übernatürlichem, verbindet Alltagshelligkeit mit Albtraumdunkel – für jeden Regisseur eine Herausforderung. An der Bayerischen Staatsoper hat Dmitri Tcherniakov nun auf jegliche Waldseligkeit und Jägerromantik verzichtet und die Handlung im Hier und Heute angesiedelt.
Pavel Černoch (Max), Golda Schultz (Agathe), Kyle Ketelsen (Kaspar), Ensemble und Chor der Bayerischen Staatsoper © Wilfried Hösl
Vielleicht hat er das alles ja auch nur geträumt, der Jägerbursche Max, und Stoff für einen wahren Alptraum hätte er ja auch, schließlich hat er sich in der Nacht in der Wolfsschlucht mit den Mächten des Bösen eingelassen und Freikugeln bekommen. Sie sollen ihm einen erfolgreichen Probeschuss vor dem Fürsten garantieren, denn ohne diesen kann er einem alten Brauch gemäß nicht auf die Hand seiner geliebten Agathe rechnen, der Tochter des Erbförsters Kuno. Und nun liegt sie am Boden, mutmaßlich von seiner Kugel getroffen, was sich freilich alsbald als Täuschung herausstellt. Regisseur Dmitri Tcherniakov lässt diese Szene in flackerndem Blaulicht spielen wie in einer Traumwelt, und als das richtige Licht angeht und wir uns wieder in der großbürgerlichen Sphäre von Konzernchef Kunos Firma befinden, wird er von einem manischen Lachen geschüttelt.
Eine solche „Traumdeutung“ der Szene würde dann so manche Ungereimtheit erklären. Warum hören wir, als Max mit dem Gewehr auf Kaspar schießt, der ihn zu seinem dämonischen Handel in der Wolfsschlucht verführt hatte, keinen Schuss, wo doch sonst in dieser Inszenierung andauernd deutlich hörbar herumgeballert wird? Warum hat Max, als er für den Probeschuss durch das Fenster nach draußen zielt, wie wir auf der Videoleinwand sehen können, die Festgesellschaft im Visier, die eigentlich hinter ihm steht?
Das entspräche dann der Logik, die wir von Träumen her kennen, doch was würde diese Deutung der Oper bringen? Der Geschichte um den jungen Jäger und seinen Versuch, sich gegen alle Vernunft mit dem Bösen einzulassen, nichts, auch nichts der Beziehung zwischen ihm und Agathe. Vor allem müsste dann auch die Wolfsschluchtszene Teil des Traums sein, in ähnliche Farben gehüllt und bar jeder Logik. Da fragt sich Kaspar, ob Max auch kommen werde, obwohl er ihn selbst in einer Plastikfolie an den Ort des Geschehens geschleift hat.
Dabei hat Tcherniakov so manche nachvollziehbare Idee zu diesem Stoff. An den Vertreter der Hölle, Samiel, glaubt er nicht; ihn erklärt er als Halluzination von Kaspar, der unter Wahnvorstellungen zu leiden scheint. Das ist plausibel und Kaspar wäre Bösewicht genug für diese Oper.
Ensemble und Chor der Bayerischen Staatsoper © Wilfried Hösl
Auch die Gesellschaft um Agathes Vater Kuno ist sarkastisch gezeichnet, wo man zum Partyspaß aus dem Fenster auf Passanten auf der Straße schießt. Vieles aber bleibt unerfindlich. So gibt Tcherniakov während der Ouvertüre durch eingeblendete Schriftzüge den Figuren eine Vergangenheit und Psychologie, die man hinnehmen kann: Kuno wird als despotischer Unternehmer beschrieben, Max als karrierelüsterner Angestellter, Agathe als emanzipierte Frau, die sich von ihrem Vater gelöst habe. Doch in der Oper sind diese Charakterisierungen nicht nachvollziehbar, sind zudem unlogisch, denn warum ist Agathe nun plötzlich doch im Haus des Vaters.
Anna Prohaska (Ännchen), Golda Schultz (Agathe) © Wilfried Hösl
Dass Ännchen offenbar lesbisch und in Agathe verliebt ist, bleibt folgenlos. Dass Kaspar krankhaft auf Agathe fixiert sei, ist dem Geschehen auf der Bühne kaum anzumerken. Hier wird eine Handlung angedeutet, die nicht eingelöst wird. Immerhin scheint sie für die Proben mit den Sängern ergiebig gewesen zu sein, denn in der Figurenführung ist die Inszenierung ausgesprochen schauspielerisch, was man nicht von jeder Opernregie sagen kann.
Für die szenischen Schwächen wird der Zuschauer, vor allem der Zuhörer entschädigt durch die Sänger. Ist der Max von Pavel Černoch manchmal auch stimmlich etwas undifferenziert, so glänzt Anna Prohaska als Ännchen durch virtuose Stimmführung und ungewöhnlich differenzierte Charakterisierung dieser Figur, die oft nur banal auf die Bühne kommt. Einen schöneren Sopran als den von Golda Schultz kann man sich für die Agathe kaum wünschen. Wie sie allein ihre erste Arie in jeder Zeile neu gestaltet, jeder Stimmungsänderung genau nachspürt, ist faszinierend, und wie präzise und dabei ungemein ausdrucksstark Kyle Ketelsen den Kaspar singt, macht aus diesem eine Hauptfigur. Und ähnlich faszinierend und für das Gelingen der musikalischen Seite dieser Inszenierung von zentraler Bedeutung ist Dirigent Antonello Manacorda. Er lässt das Staatsorchester, wo nötig, mit warmem Klang jene Romantik heraufbeschwören, die die Szene vermissen lässt, blättert die Partitur zugleich ungemein detailliert auf, hebt die so wichtigen Holzbläser hervor, lässt die Hörner warm singen. Das ist Klangraffinesse ganz im Dienst eines musikdramatischen Ereignisses, das ist Freischütz at its best.
Der Stream der Premiere vom 2.2.2021 ist bis 15.3.2021 kostenlos abrufbar
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