„Remember Me.“ Das Stuttgarter Ballett zum Gedenken an John Cranko

Kann man nach der Callas noch die Tosca singen? Man kann, auch wenn die Callas gerade in dieser Rolle Unnachahmliches geleistet hat. Man braucht nur eine entsprechende – keineswegs der Callas verwandte – Stimme und eine starke Persönlichkeit. Dieselbe Frage kann man auch bei John Crankos Ballett Initialen stellen. Denn als er 1972 dieses Ballett choreographierte, schrieb er es ganz auf den Leib seiner vier großen Tanzstars zu, seiner „Freunde“, wie er es formulierte. Jetzt ist das Stück wieder einmal in neuer Besetzung auf die Stuttgarter Bühne gekommen, zum Gedächtnis an Crankos 50. Todestag.

Matteo Miccini, Adhonay Soares da Silva, Elisa Badenes, Anna Osadcenko © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Natürlich wusste Cranko, wo die tänzerischen und persönlichen Qualitäten von Richard Cragun lagen, was das Besondere an Birgit Keil war, worin Marcia Haydée etwas ganz Herausragendes darstellte und Egon Madsens tänzerische Eigentümlichkeit lag – und er choreographierte sein Stück genau daraufhin. Cragun brillierte mit kraftvollen Sprüngen, Drehungen in der Luft. Ihm folgt das Corps de Ballet entsprechend virtuos. Birgit Keil überzeugte mit dem von ihr geprägten eleganten Tanzstil, schwebte federleicht auf den Armen und Schultern der Männer, ausdrucksstark und klassisch, gelegentlich fast klassizistisch. Egon Madsen durfte seine quecksilberhafte Quirligkeit zeigen. Der Höhepunkt aber blieb Crankos Primaballerina assoluta vorbehalten: Marcia Haydée. Ihr Auftritt unterschied sich drastisch von dem der übrigen drei, die jeweils die Szenen von Anfang an beherrschten. Im dritten Satz muss man lange warten, bis die Solistin auftritt, exakt mit dem Einsatz des langsam sich vortastenden Klaviers.

Wenn jetzt Matteo Miccini zum 4. Satz des zweiten Klavierkonzerts von Brahms auf den „Spuren“ von Egon Madsen wandelt – den Satz hat Cranko mit „E.“ wie Egon überschrieben –, dann macht er das mit einer solchen Freude, Eleganz, Sportlichkeit und Spielfreude, als wären die Schritte und Sprünge für ihn geschaffen. Allein, wie er verblüfft einfach dasteht und der Welt und dem Treiben um sich herum zuschaut, ist faszinierend. So kann aus bloßem „Stehen“ Tanz werden.

Dasselbe gilt für Anna Osadcenko, die genau die Eleganz trifft, die Cranko für „seine“ Birgit Keil im 2. Satz tänzerisch erdacht hat – zeitlos wirkende Klarheit, federleichte Körperhaftigkeit wie nicht von dieser Erde –, und doch ihre ganz eigene persönliche Prägung auf die Bühne bringt. Sie scheint geradezu durch die Luft zu schweben – das Wort „fliegen“ wäre zu schwer für diese Bewegungen – und gar nicht mehr auf den Boden der Tanztatsachen zurückkehren zu wollen. Das ist im Geist der Rolle, die Birgit Keil zugedacht war, aber aus Osadcenkos eigener Persönlichkeit heraus entwickelt.

Friedemann Vogel, Elisa Badenes © Roman Novitzky / Stuttgarter

Ballett

Vielleicht am schwersten hatte es Elisa Badenes, die die Rolle von Marcia Haydée übernommen hat. Für Haydée hatte Cranko den langen poetischen dritten Satz des Klavierkonzerts ausgewählt und dabei alle emotionalen Wendungen der Musik in Bewegung umgesetzt. Elegant wie eine Kerze steht Elisa Badenes von den Armen der Partner getragen in der Luft; selbst wenn sie sich kaum bewegt, ist sie voller Ausdruckskraft und bildet mit dem Partner ein vollendetes Paar.

Mit den übrigen drei Tänzern hat Cranko deren Herkunft aus dem klassischen Ballett verdeutlicht, für Haydée hat er eine Tanzspezies sui generis kreiert, und Elisa Badenes zeigt, wie man diese „Rolle“ heute, ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung, mit ganz eigenem Leben gestalten kann. Sie ist nicht Marcia, wie das „M.“ über diesem Satz nahelegt, sie ist „E.“ – Elisa, die diese Rolle zu ihrer eigenen gemacht hat.

Adhonay Soares da Silva belässt es allerdings weitgehend bei der zugegeben stupend getanzten virtuosen Brillanz, die Zwischentöne bleiben eher unterbelichtet, doch auch sie gehörten zur Tänzerpersönlichkeit eines Richard Cragun.

Ballettdirektor Tamas Detrich hat dieses Stück, das im Rückblick – Cranko starb wenige Monate nach der Uraufführung – wie eine Aufforderung des Choreographen an seine Tänzer klingt, mit dem Requiem kombiniert, das Crankos Kollege Kenneth MacMillan drei Jahre danach für das Stuttgarter Ballett und damit auch die vier in Initialen hervorgehobenen Tänzer kreiert hat. MacMillan wählte für diesen Nachgesang auf seinen Freund das Requiem, das Gabriel Fauré nach dem Tod seiner Eltern schrieb.

Welch eine Trauer, ja welch eine Wut! Zu Beginn des „Requiems“ von Kenneth MacMillan stürmt das Corps de ballet wie eine Phalanx auf die Bühne, die Tänzer recken die Fäuste in die Höhe, schütteln sie fassungslos – Kenneth MacMillan fand für seine Verzweiflung und seinen Schock angesichts des plötzlichen Todes seines Freundes John Cranko ein eindrucksvolles Entree.

Mit einem schmerzvollen Orchesterakzent beginnt diese Totenmesse, doch was dann folgt, ist nicht so sehr ein aufbegehrerisch wütendes „Dies irae“, sondern ein eher ruhiges, dem ewigen Schlaf gewidmetes Werk, gleichwohl eine Trauermusik – und genau diese Gratwanderung vollzieht MacMillans Choreographie. Was dem Auftakt folgt, ist über weite Stecken eine grandios in Tanz umgesetzte Dichotomie zwischen Reglosigkeit und neuer Bewegung. Immer wieder werden die Tänzerinnen von den Tänzern getragen, als wären sie erstarrte Skulpturen ihrer selbst, und doch finden sie immer wieder zu neuem Leben – mal in der Gruppe, mal als Paar, mal vereinzelt in Gedanken.

Elisa Badenes © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Wie Elisa Badenes im vierten Satz des Stücks ein solches tänzerisches „Zwiegespräch“ mit sich selbst gestaltet, das zugleich ein aufmerksames Beobachten der Welt um sie herum ist, ist schmerzlich-verloren und tröstend zugleich. Desgleichen, wie sie wie eine leuchtende Kerze in die Höhe ragend auf den Händen ihrer Partner steht, als bräuchte sie diese tragende Stütze gar nicht, ist von überwältigender Schönheit und voller Ausdruck – Ausdruck zwischen überwundener Trauer und Zuversicht auf das Kommende.

Doch MacMillans Requiem ist kein Schautanz der Solisten, obwohl seinerzeit alle „Stars“ des Stuttgarter Balletts daran beteiligt waren und in einer Momentaufnahme ganz ruhig verharren, als skulpturale Einheit des ganzen Balletts. MacMillan schuf eine Choreographie für das ganze Ballett. So bilden die sich vereinzelnden Paare, die immer wieder zusammenfinden, jedes für sich eine grandiose Ausdruckskraft – und damit ist dieses Werk dem von Cranko vergleichbar, der sich nicht damit begnügt hat, seinen vier Freunden Paraderollen auf den Leib zu choreographieren, sondern jeden einzelnen Tänzer, jedes Paar daneben detailreich und phantasievoll individuell gestaltete. Das Stück heißt zwar Initialen – ist aber ein Stück für die ganze Truppe.

Würdiger kann man den 50. Todestag eines großen Choreographen – und Erschaffer des „Stuttgarter Ballettwunders“, wie ein Kritiker seinerzeit schrieb, programmatisch kaum mehr realisieren, auch wenn der Abend dem Publikum – neben den Tänzern und da vor allem der in beiden Stücken dominierenden Elisa Badenes – viel abverlangt, denn es sind letztlich zwei Stücke, die für sich genommen beide „abendfüllend“ sind und entsprechend Aufmerksamkeit und Konzentration verlangen, nicht nur von den Tänzern.

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