In der Malerei des 20. Jahrhunderts gab es fast nichts, das es nicht gab: Abstrakte Komposition, geometrische Strenge, aber auch neusachlichen Realismus, glatte Flächigkeit und expressiv aufgespachtelte Farbexplosion. Wer Ende der 50er Jahre als angehender Künstler seine Sprache finden wollte, hatte es schwer. Helmut Sturm entwickelte über Jahrzehnte hinweg eine Malerei, die alle Gegensätzlichkeiten einband und alle Grenzen überwand, wie das Kunstmuseum Ravensburg jetzt in einer großen Retrospektive zeigt.
Keine Frage, ein Kardinal. Man erkennt die rote Robe, das rote Birett, man mag sich an das große Kardinalsporträt von Velázquez erinnert fühlen, bei dem kunsthistorisch eminent gebildeten Helmut Sturm durchaus plausibel. Und doch ist es nicht das Porträt eines Kardinals; man meint vielmehr, die Figur habe sich eher zufällig aus den vehementen Pinselstrichen ergeben, mit denen Helmut Sturm 1959 die Leinwand überzog, abstrakte Malerei also.
Und das entsprach auch seinen Anfängen, die einen jungen Maler auf der Suche zeigen. Man erkennt Einflüsse von Kandinsky – Sturm und sein Freund HP Zimmer pilgerten jeden Sonntag zum „heiligen Wassily“ – vor allem aber erlebt man informelle Malerei, vor allem in der reduzierten, gedämpften Farbpalette, wie sie Wols, ein Meister dieser Kunstströmung, der auch Jahrzehnte nach seinem Tod noch Geheimtipp ist, bevorzugte. Da entstanden sehr poetische Kompositionen in kleinen Formaten, oder auch größere Bilder in düsteren Grautönen, in denen Sturm dann alsbald Inhalt entdeckte, den Tod und das Mädchen nach Schuberts Streichquartett etwa, und also zeichnete er in die abstrakten Farbwolken vage Anklänge an Figuren ein, erster Schritt zu einer Hinwendung zur figürlichen Malerei. Informelle Malerei war für Sturm allzu sehr in Gefahr, sich in Beliebigkeit zu verlieren.
Und so taucht eine neue Inspiration in seinem Schaffen auf, Max Beckmann mit seinen existentialistischen zerquälten Menschenbildern. Doch immer entwickelte Sturm seine ganz eigene Bildsprache. Die Gesichter wirken wie Masken, wie bei Beckman, aber eher nachträglich eingezeichnet in eine abstrakte Farbgrundierung. Doch der Begriff Grundierung wäre bei ihm der falsche Begriff. Seine Malerei zeichnet sich auch bei aller Figürlichkeit dadurch aus, dass es keinen richtigen Vorder- oder Hintergrund gibt. Alles ist gleichbedeutend, das eine ergibt sich aus dem anderen und umgekehrt.
Das verführt das Auge des Betrachters, ständig zwischen den Ebenen hin- und herzuwandern, zwingt ihn dazu, traditionelle Vorstellungen von Bildhintergrund als Basis und -vordergrund als bedeutende Inhaltsebene zu überdenken. Das gilt auch für den Kardinal. Übermächtig ballen sich da in der oberen Bildhälfte weißliche Wolkenungetüme zusammen, die die Figur, also traditionell gesehen das zentrale Vordergrundmotiv, zu verdrängen scheinen. Umgekehrt scheint sich die Figur erst durch die fast schiebende Bewegung der düsteren Farbwolken in der unteren Bildhälfte bilden zu wollen. Ein eingeklebtes Stück Papier mit der Aufschrift „Einberufung 1960“ macht aus dem Gemälde einen politischen Kommentar, was auf die politische Ausrichtung der Gruppe Spur deutet, die sich 1957 an der Münchner Akademie gebildet hatte und bei der Sturm der führende theoretische Kopf war.
So bevölkern fortan gegenständliche Elemente Sturms Bilder, hier ein Kopf, da ein Arm, und immer wieder erkennt er nachträglich Inhalte in seiner Malerei, so etwa einen Ländlichen Konflikt, oder märchenhafte Figuren wie den Golem. Entscheidend ist das Wort nachträglich. Sturm meinte einmal, ein Maler wisse mehr als andere, aber erst nachher, sprich: nach dem Malakt. Der Akt ist entscheidend. Daher ist es für Sturm auch nicht wesentlich, ständig Gegenständliches zu gestalten.
Immer wieder kehrte er zur abstrakten Bildgestaltung zurück, die allerdings sehr früh schon im Unterschied zum Informell sehr farbig wurde. Hier hatte Asger Jorn entscheidende Impulse geliefert. Gelegentlich explodieren Sturms Bilder geradezu vor strahlend bunter Farbe, die er wie Material auf die Leinwand spachtelte. Ein Bild war für ihn, wie er betonte, kein Abbild der Realität, nicht die Projektion einer Vorstellung auf eine Fläche, sondern ein „Geschehen“ aus Farbflecken, Linien und Versatzstücken aus der Spielkiste der Wirklichkeit. Daher steht man als Betrachter vor Sturms Bildern nicht wie ein Beobachter, vielmehr muss das Auge sich seinen Weg durch das bildnerische Geschehen bahnen.
Zu den „Versatzstücken aus der Spielkiste der Wirklichkeit“ zählen bald auch Buchstaben, ein Einfluss der amerikanischen Pop Art. Es entstehen Buchstabenbilder, wobei auch hier die Buchstaben nur Teil des ganzen Bildgeschehens sind.
Als seine Gemälde später ruhiger wurden, entwickelte er auch räumliche Malerei, ohne jedoch richtige Räume zu gestalten, doch die Bilder erhalten Tiefe, in die das Auge vordringen will. Sturms Malerei nimmt den Begriff ernst. Seine Gemälde sind nicht malerischer Ausdruck von etwas, sie sind nichts anderes als eben Malerei, als malerisches Geschehen. Daher bleibt der Betrachter auch nie unbeteiligt, er wird Teil der Malerei. Selten ist der Betrachter so sehr mitkonstitutiver Partner wie bei diesem Künstler. Und deshalb braucht man für jedes Bild auch Zeit, viel Zeit, denn immer wieder entdeckt man neue Wendungen und Tiefen. Sturm war ein „Malermaler“, und der Betrachter dieser Bilder ist ein Mitmaler.
„Helmut Sturm. Spielfelder der Wirklichkeit“, Kunstmuseum Ravensburg bis 1.11.2021.Katalog