Am Maler Zeuxis rühmte man im antiken Athen, er habe Weintrauben so naturgetreu porträtieren können, dass Vögel herbeigeflogen kamen, um an ihnen zu picken. Diese Kunst der realistischen Malerei erlebte in der Neuzeit im 17. Jahrhundert in den Niederlanden einen Höhepunkt, als Maler Blumen, Früchte und tote Tiere perfekt auf ihren Silllebenbildern wiedergaben. Mit der Erfindung und Vollendung der Fotografie war jedoch in der Kunst die naturgetreue Wiedergabe als Endzweck obsolet geworden. Eine Ausstellung in der Galerie „Fähre“ in Bad Saulgau zeigt jetzt, dass sie auch im 21. Jahrhundert Künstler reizt, wenn auch nicht als Hauptziel ihrer Malerei.
Tibor Pogonyi, Reflexion. Foto: U. Schäfer-Zerbst
Perfekter, naturgetreuer, also „realistischer“ kann man ein Felsgestade im Meer kaum mehr malen. Tibor Pogonyi hat mit Pinsel und Farbe jeden Felsblock einzeln so herausgearbeitet, dass man am liebsten einen Geologen um eine Gesteinsbestimmung bitten möchte. Und auch der am Strand hockende Jüngling wirkt wie dem Leben entnommen. Und doch zieht sich gerade durch diese Figur ein Bruch durch die Darstellung, denn der junge Mann hat den Kopf verhüllt, sieht also nicht, wie er sich im Meerwasser spiegelt. Gleichwohl heißt das Bild Reflexion. Und damit hat Pogonyi noch eine dritte Ebene in sein Bild eingebracht – eine Anspielung auf Narziss, der selbstverliebt sein Spiegelbild im Wasser betrachtet. Nur dass der Mann bei Pogonyi vor der Selbstreflexion zurückschreckt, wie auch die Figuren, die auf einem Baum auf ihr Schicksal warten, ihren Blick verhüllen, denn worauf sie warten, ist verheerend; es ist die Apokalypse. Auch hier nutzt Pogonyi eine getreue Darstellungsweise, um den Betrachter in ganz andere Seinssphären zu entführen.
Das Gegenteil findet sich auf den Bildern von Jiyun Cheon. Ihre Hauptmotive sind nicht, wie Pogonyis Felsen im Meer, detailscharf gemalt, sondern im Vagen belassen. Sie malt ihre zentralen „Figuren“ mit einem Sfumato, das in der Maltradition eigentlich eher der Darstellung großer Entfernungen vorbehalten ist: So sehen wir einen Vogel auf einer Stuhllehne oder einen Fuchs mit einer Ratte im Maul auf einem Bett gemalt wie von einem Impressionisten. Diese Motive befinden sich in einer Umgebung, die dafür gar nicht passen will – in Innenräumen früherer Jahrhunderte mit Stuckverzierungen an der Decke, die wiederum extrem realistisch porträtiert sind. Traum und Wirklichkeit werden hier durch die Kombination von Motiv und Schauplatz sowie die unterschiedliche Malweise einander gegenübergestellt.
Sehr viel eindeutiger scheinen da die Bilder von Eckart Hahn zu sein. Er malt alles auf seinen Bildern mit einer Detailperfektion, die denen der Meister der Stillleben des 17. Jahrhunderts gleichkommt.
Eckart Hahn, Paradies. Foto: U. Schäfer-Zerbst
Die Vögel scheinen einem ornithologischen Lehrbuch entnommen zu sein, ein Tintenfisch gerade erst aus dem Meerwasser gezogen. Doch dieser Tintenfisch hängt auf rätselhafte Weise an einem Garderobenständer – und man fühlt sich an den Surrealismus erinnert, der nach den Worten des Dichters Lautréamont seinen Reiz daher beziehe, weil er wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch sei.
Doch ähnlich wie bei Pogonyi dient auch bei Hahn die realistische Malweise einer philosophischen Reflexion. Die Vögel stehen für das Paradies, so der Bildtitel, doch es ist ein künstliches Paradies, das den
Tieren Einschlupf durch Löcher wie in einem Starenkasten gewährt. Oder befindet sich das Paradies auf der Seite der Vögel? Dann wäre das Schwarz in den Löchern ein Blick auf unsere Welt. Auf einem anderen Bild hat Hahn die kahlen Zweige eines Baums in Goldfolie gehüllt, wie man sie zum Schutz von Schwerverletzten einsetzt. Was wie ein Abbild der realen Welt wirkt, verweist in Wirklichkeit auf die Möglichkeit einer anderen – vielleicht schöneren, heileren – Welt als die uns bekannte. Hier kippt die realistische Darstellung in Fantastik um.
Das Gegenteil bei Nicolas Schützinger. Er strebt mit seinem Pinsel keinerlei kunstfertigen Fotorealismus an – und ist doch der Sphäre unserer Erfahrungswelt ganz nahe. Er porträtiert Alltagsszenen – eine Frau nach der Dusche, Wäscheständer – und verleiht der Materialität der Kleidungsstücke, die zum Trocknen aufgehängt sind, durch die Malerei Kunstwürdigkeit, ohne sie realistisch zu porträtieren wie Pogonyi oder Hahn. Man meint, das Haptische der Stoffe spüren zu können, und sieht gleichzeitig, dass sie gemalt sind.
Im Unterschied zu Plastiken von Birgit Feil. Das Kleid, das ihre Daniela trägt, ist tatsächlich aus echtem Kleiderstoff, den sie in einem raffinierten Verfahren in den Kunststoff, aus dem ihre Plastiken bestehen, eingezogen hat. Hier geht ein Stück Realität in ein Kunstwerk ein und wird dadurch zugleich in etwas künstlich Wirkendes verwandelt. Und auch die Figuren, die sie gestaltet, haben zwar Namen, als wären es bekannte Freunde, doch haben sie zugleich etwas Typenhaftes an sich. Das gilt vor allem für die Figuren, die auf Trapezstangen oder Schaukeln um Balance bemüht sind – realistische Darstellung auf den ersten Blick, Typenhaftigkeit auf den zweiten.
Dieser Blick hinter die Fassade der realistischen Darstellung scheint all diese Künstler zu bewegen. So stellen die Bilder von Volker Blumkowski den Betrachter stets vor Rätsel. Was wie ein Blick auf eine rote Wand durch den angewinkelten Arm einer Figur aussieht, entpuppt sich bei genauem Hinsehen als reine Malerei, so wie die ganze so realistisch wirkende Figur des Mannes sich als reine Malerei entpuppt.
Der skeptische Blick eines Mannes auf ein Liniengewirr hinter einer Wand könnte sich auf das Rätsel der abstrakten Malerei beziehen. Der Maler, der hingebungsvoll einen gelben runden Fleck auf den Boden malt, ist
Gefangener seines eigenen Tuns, denn er kommt nie von diesem Fleck weg, ohne den Rest des Bodens zu beschmutzen.
Realistische Darstellung kann dem Wunsch entspringen, die reale Welt täuschend echt auf Leinwand zu bannen. Sie kann aber auch als Ausgangspunkt dienen zu Reflexionen über den Zustand dieser Welt, die Frage nach einer Alternative zu ihr, den Zweifel an der Richtigkeit unserer Wahrnehmung. Und wenn man von diesen Bildern den Blick auf den Ausstellungsraum lenkt, das Alte Kloster in Saulgau, und danach auf die Straße hinaustritt, fragt man sich unwillkürlich, ob das, was sich da dem Auge darbietet, tatsächlich die objektive Welt um uns herum ist oder doch stets nur ein Bild, das wir uns von ihr machen.
„Spielarten des Realismus“, Städtische Galerie Fähre, Bad Saulgau, bis 28.8.2022