Streng genommen gibt es keine unterschiedlicheren Kunstgattungen als die Graphik und die Bildhauerei. Der Graphiker arbeitet streng zweidimensional, flächig oder, noch reduzierter, einzig mit der Linie; Räume kann er nur andeuten. Der Bildhauer arbeitet raumgreifend, schafft Volumina, selbst wenn sein Ausgangsmaterial dünne Eisenstäbe sind. Und doch greifen viele Bildhauer immer wieder zum Stift oder zur Radierplatte, nicht, um Vorskizzen zu ihren späteren Skulpturen anzufertigen, sondern um eigenständige Kunstwerke zu schaffen, die gleichwohl natürlich zumindest im Geist verwandt sind mit ihren dreidimensionalen Kreationen. Eine Ausstellung in der Kunsthalle Vogelmann in Heilbronn zeigt an drei Beispielen auf, wie eigenständig solche Arbeiten sein können und wie nahe sie zugleich doch dem eigentlichen Oeuvre dieser Künstler stehen.
Am nächsten dürften Graphik und Raumskulptur bei dem Amerikaner Fred Sandback beieinander sein, denn Sandback ist einer der graphischsten Raumkünstler überhaupt. Sein Material ist nicht der Stein oder Stahl, sondern ein mit Draht verstärkter farbiger Faden, mithin also eine Linie. Mit ihr gestaltet er weniger Räume, als dass er sie andeutet. Es reichen einige rechtwinklig in den Saal gespannte Fäden aus, und vor dem geistigen Auge des Betrachters ergeben sich Quader, ja sogar regelrechte Korridore. Ohne dieses Zutun des Betrachters allerdings blieben die Arbeiten eindimensional. Was also liegt näher, als diese bildhauerischen Linien im Raum auch auf der Fläche des Papiers zu verwenden. So manche dieser Zeichnungen wirkt dann tatsächlich wie eine Planskizze für die Raumarbeit: Man erkennt rechte Winkel, wie sie entstehen, wenn eine Wand auf den Boden trifft; man meint halbe Fensterrahmen in einer Zimmerwand zu erkennen, doch immer gilt: „Man meint…“ So wie Sandback mit seinen Raumskulpturen auf die Mitarbeit des Betrachters baut, so verlangen auch seine Graphiken das ergänzende Sehen.
Auf dem Papier allerdings kann Sandback noch weiter in der Reduktion der Ausdrucksmittel gehen als im Raum. Manchmal spielt er die Möglichkeiten gerader Linien geradezu systematisch durch. Mal deutet er ein Rechteck an, das oben offen bleibt, mal zeichnet er spitze Winkel. Wüsste man nicht, dass dies Arbeiten eines Bildhauers sind, könnte man meinen, einen konstruktivistischen Zeichner am Werke zu sehen, doch das Wissen um das eigentliche Oeuvre dieses Künstlers verleitet einen sofort, in den Winkeln Andeutungen von Räumen zu erkennen; es sind vom Geiste her typische Sandbacks und zugleich für sich stehende Graphiken.
Auch beim Spanier Eduardo Chillida erkennt man in der Graphik seine Plastiken, jene abstrakten Gebilde aus dicken Stahlbalken, die erratisch in den Raum ragen – Arbeiten, die wie die Reaktion eines archaischen Künstlers auf die raue Landschaft der spanischen Felsenküste wirken, und Chillida hat ja auch immer wieder betont, dass das Meer sein Meister sei. Und doch gehen seine Graphiken ähnlich wie die Sandbacks weiter. Im zweidimensionalen Medium ist Chillida freier, er kann die Linien, die seine dicken Stahlbalken in die Luft zeichnen, auf dem Papier mit mehr Fantasie ziehen, sie wirken organischer, zudem kann er in der Druckgraphik mit einem Phänomen arbeiten, wie es ihm in der Plastik so nicht zur Verfügung steht: mit Positiv- und Negativformen – und in einigen Lithographien gar scheint er vom Sandstrand der Küsten inspiriert worden zu sein; er schuf in sich changierende Ockerflächen, wie man sie in seinem plastischen Werk nicht findet.
Auch Richard Serra scheint in einer Arbeit in der Graphik das weiterzuführen, was er im Raum gestaltet. Hat er gelegentlich Eisenplatten schräg aufgestellt, dass sie sich leicht biegen, so findet sich eine ähnliche Fläche nun in der Lithographie – doch nur bei einer einzigen Arbeit in dieser Ausstellung. Zwar finden sich große schwarze Flächen auch anderweitig, aber diese Flächen haben mit seinem bildhauerischen Werk nichts zu tun.
Serra arbeitet mit unterschiedlich strukturierten Papieren, greift nach dem Druck noch zum Pinsel und bearbeitet das Blatt weiter, trägt in der Lithographie, die bei ihm allerdings nicht mit einer Steinplatte, sondern Metallplatten hergestellt wird und also eigentlich eine „Ferrographie“ ist, die Farbe derart vehement auf, dass sie über die gedruckte Fläche auf das Papier hinaus spritzt; so ergeben sich Energiestrahlen, wie man sie in seiner kompakten Bildhauersprache nicht findet. Hier hat ein Bildhauer ein Medium entdeckt, das er auf ganz eigenständige Weise einsetzt.
Kann man bei Sandback und Chillida im vielen Arbeiten nachvollziehen, was der Titel der Ausstellung verheißt – nämlich einen Schritt vom Raum an die Wand, so hat Serra schlicht und einfach das Medium gewechselt und in beiden Bereichen ganz Eigenes geschaffen.
„Vom Raum an die Wand. Bildhauergraphik“, Kunsthalle Vogelmann, Heilbronn bis 8.10.217. Begleitheft 56 Seiten