„Gehet hin und lernet, mit so einfachen Mitteln so Großes hervorzubringen“ meinte Beethoven einmal über Georg Friedrich Händel. Ohne sie mit diesen Titanen der Musikgeschichte vergleichen zu wollen, könnte man Ähnliches auch über die 1989 geborene Malerin Çiğdem Aky sagen, die diesjährige Stipendiatin der HAP-Grieshaber-Stiftung in Reutlingen. Auf ihren Bildern variiert sie letztlich ein einziges Formprinzip – doch mit welcher Vielfalt, wie ihre Ausstellung „Im Schatten der Bäume“ im Kunstmuseum Reutlingen/Galerie zeigt.
Konfettiregen. 2022 © Çiğdem Aky. Foto: Horst Simschek
Schlichter, so könnte man meinen, geht es kaum mehr. Streng genommen malt Çiğdem Aky seit Jahren immer das gleiche Bild, zumindest formal. In der Mitte ragt ein schmales Rechteck in die Höhe, man könnte auch von einem Farbband sprechen, umgeben sind diese streng geometrischen Formen von locker auf die Leinwand gemalten Farbimpressionen. Und doch ergibt sich aus diesem so schlichten Grundkonzept jeweils eine ganz eigene Bildwelt, und das lässt diese Bilder hochgradig raffiniert wirken. Das liegt zum einen an den Farbkompositionen. Çiğdem Aky wählte mal in sich stimmige Kompositionen, die von einem Farbton ausgehen und dann in langsamen Modulationen in verwandte Farbtöne übergehen – so ergeben sich beispielsweise faszinierende Kompositionen in Grün. Aber auch die bunteren Bilder sind in sich stimmig. Çiğdem Aky hat ein Gespür dafür, welche auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Farbtöne wie Rosa und Violett, Blaugrün und Rot sich zu einem Miteinander fügen. Ein Gang durch diese Ausstellung kommt einem Schwelgen in Farben, vor allem in Farbübergängen, gleich.
Die Bildtitel lassen vermuten, dass sich Çiğdem Aky entweder durch äußere Eindrücke zu ihren Bildern hat inspirieren lassen – Sonnenberge, Abenddämmerung -, oder sich aber durch ihre Bilder zu Titeln hat anregen lassen wie die sicher durch die dunkelbraune Farbe entstandene Assoziation Tropikal. Doch muss man als Betrachter dem nicht zu folgen versuchen; es sind subjektive Assoziationen der Künstlerin, der Betrachter kann seine eigenen entdecken, zum Beispiel an einen Blick durch ein Fenster in eine grüne Landschaft denken, wobei das Fenster rechts und links von zwei im Wind wehenden Schleiervorhängen eingerahmt zu sein scheint.
Die eigentliche Raffinesse und damit auch den eigentlichen Reiz beziehen diese Bilder aber aus ihrem kompositorischen Grundansatz, denn sie vereinen zwei widersprüchliche Malweisen, auch Maltraditionen. Der Balken in der Mitte – eine Fläche, die sie beim Malen zunächst abklebt und erst in einem späteren Arbeitsschritt gestaltet – ist geometrisch-konstruktivistisch exakt gemalt, er ist meist sogar vom Rest des Bildes durch einen kleinen Streifen abgetrennt, der die ursprüngliche Grundierung der Leinwand erkennen lässt.
Abenddämmerung/Tropikal © Çiğdem Aky. Foto: U. Schäfer Zerbst
Manchmal ist ein solcher Farbbalken von einigen wenigen dicken Pinselstrichen regelrecht eingerahmt, als wäre er ein Bild im Bild. Das Farbgeschehen in diesem Balken ist diffus, das Auge findet meist keinen Halt, der Blick verliert sich in ins Unendliche sich ausdehnende Raumtiefen. Die Umgebung dieser Farbbalken dagegen besteht aus mehreren Farbschichten, informeller Malerei, deren letzte aus einem breiten, geschwungenen, oft weißlichen Pinselstrich besteht, der das ganze Bild zuzudecken drohte, wenn Çiğdem Aky die Farbe nicht so transparent dünn aufgetragen hätte. Da sie die Bilder in zahlreichen Arbeitsgängen entwickelt, bei denen die Farbe immer erst trocknet, bevor eine nächste Schicht darübergelegt wird, wirken diese letzten weißlichen Schleier fast wie Reliefs.
Vor allem aber – und das macht diese Arbeiten aufregend, vor allem, wenn man sie in Serie betrachtet – ereignet sich auf diesen Bildern rein farblich unerhört viel. Mal ist die Farbwelt des mittleren Balken komplett eine Welt für sich, abgetrennt von allem übrigen: Sie führt ein Eigenleben, scheint sich um den Rest der Bildwelt nicht zu kümmern. Auf einigen Bildern ist dieser Balken von dicken dunklen Pinselstrichen regelrecht eingerahmt, als wäre er ein Bild im Bild. Auf anderen Arbeiten wiederum setzt sich in diesen Balken das, was sich farblich in der Randumgebung ereignet, fort:
Blue Bird. 2022 © Çiğdem Aky. Foto: Horst Simschek
Da gibt es Wellenlinien, die sich in diesem Balken weiterbewegen und auf der anderen Seite von der Umgebung wieder aufgegriffen werden. Nur dass die Farben sich jeweils verändern. Man hat nicht selten den Eindruck, die Farben im Balken in der Mitte seien reiner, kräftiger, werden an den Rändern von anderen Farbschichten wieder zugedeckt. Bei anderen Bildern wiederum hat man das Gefühl, es sei umgekehrt. So erhebt sich ständig die Frage, was das Wesentliche an diesen Bildern ist – das Zentrum oder der Rand. Çiğdem Aky arbeitet auf diesen Bildern nicht einfach nur mit zwei unterschiedlichen Weisen des Farbauftrags, diese Bilder sind zugleich bildphilosophische Auseinandersetzungen mit Fragen nach Vorder- und Hintergrund, nach Bildzentrum und Bildrand, nach Wesentlichem und Peripherem. Und das alles mit einem Farbbalken in der Mitte und einem Farbgewölk drumherum.
„Çiğdem Aky. Im Schatten der Bäume“, Kunstmuseum Reutlingen/Galerie bis 23.10.2022. Katalog 88 Seiten