Es ist das vielleicht schlichteste, zugleich am eindeutigsten identifizierbare geometrische Gebilde: das Quadrat, zu dessen Konstruktion es einer einzigen Angabe bedarf: Seitenlänge oder Diagonale. Im Unterschied zu Rechteck, Raute oder Trapez ist ein Quadrat stets – frei nach Gertrude Stein – ein Quadrat ist ein Quadrat…. Der Maler Hans Peter Reuter hat es seit Jahrzehnten zur Keimzelle seines ganzen bildnerischen Schaffens gemacht – und sein enormes Ausdrucksspektrum trotz der Gleichförmigkeit demonstriert.
Einförmiger geht es kaum noch: Rechte Winkel, lauter gleichlange Seiten – ein Quadrat. Nebeneinander und in Reih und Glied gesetzt fast ein Inbegriff von Langeweile, die irritierend wirken kann. Hans Peter Reuter hat das getan – und zeigt dabei, was alles in dieser schlichten Grundform stecken kann. So ist das Quadrat bei ihm zwar stets als Fläche eingesetzt, und doch schuf er damit von Anfang an, das heißt seit den 70er Jahren, Bilder von Räumen, wie sie tiefer – und geheimnisvoller – kaum sein könnten. Das Konstruktionsmittel: die Zentralperspektive, die vor 600 Jahren Filippo Brunelleschi erfunden hat, bezeichnenderweise ein Baumeister, und bis heute kommen Architekten ohne diese Möglichkeit, die Illusion von Räumen auf einer Papierfläche hervorzurufen, nicht aus. Nichts anderes machte im Grunde Reuter, und so ähneln seine Bilder vor allem der 70er Jahre gekachelten Schwimmbädern: Die frontalen Flächen aus lauter gleichen Quadraten, die nach hinten führenden Wände entsprechend verzerrt.
Ein Architekturzeichner also auf den ersten Blick, eine Art Designer, doch schon bei etwas längerem Hinsehen wird einem unbehaglich vor diesen Bildern. Die Räume wirken rätselhaft, und das nicht nur, weil in ihnen Menschen durchweg fehlen. Das zweite Mysterium neben der Menschenlosigkeit ist das Licht. Es gibt keine direkten Lichtquellen, Helligkeit strömt indirekt ein und lässt manche Wände geradezu erstrahlen, lässt andere Schatten werfen oder im Schattenbereich stehen.
So wirken die Räume – bzw. die Teile von Räumen, denn stets zeigt Reuter nur Ausschnitte aus scheinbar riesengroßen Architekturen – geheimnisvoll, nicht zuletzt auch dadurch, dass sich Reuter immer wieder ganz auf die Farbe Blau beschränkt, dabei die unterschiedlichsten Blautöne mischt, und selbst bei dem von ihm bevorzugten Ultramarinblau magische Zwischentöne entwickelt. Dieses Blau trägt er nicht glänzend auf, vielmehr verleiht er seinen Flächen eine matte Samtigkeit, die sie geradezu greifbar haptisch wirken lässt, als hätten bereits die Oberflächen seiner Kachelwände räumliche Qualität. So rücken seine Räume, die wie Kathedralen der Moderne anmuten, unversehens in die Nachbarschaft der Welt der Romantiker, die in der Blauen Blume ein Symbol der Sehnsucht und des Unendlichen sahen. Unendlichkeit, Unabschließbarkeit kennzeichnet auch die Räume auf Reuters Bildern, obwohl sie ausschließlich aus Quadraten gebildet sind, ausgerechnet jenen geometrischen Gebilden, die symbolisch für Abgeschlossenheit stehen. Rätselhaftigkeit entsteht auf diesen Bildern durch den Einsatz von eigentlich rätsellosen klar definierten Einheiten.
Das eigentliche Rätsel aber liegt darin, dass Reuter sich zwar der zentralperspektivischen Darstellung bedient, dabei aber in gewisser Weise mogelt. Die Fugen zwischen den Kacheln wirken wie die Konstruktionslinien, die Künstlern früherer Jahrhunderte als Hilfsmittel für ihre perspektivisch genaue Darstellung dienten, und zugleich auch wie ganz realistisch gemalte Fugen zwischen real wirkenden Kacheln. Doch während die Form der Kacheln, die Quadrate also, in der perspektivischen Zeichnung entsprechend verzerrt werden, bleiben die Fugen immer gleich, einerlei, ob die Wände nah beim Betrachter stehen oder nicht oder weit in die Höhe ragen, wo sie eigentlich schmaler werden müssten. Reuters Bilder erwecken den Anschein, Raumdarstellungen zu sein, sind aber in Wirklichkeit rein konstruktivistische Zeichnungen. Reuter gelingt die Synthese aus traditioneller Raummalerei, wie sie seit Jahrhunderten gepflegt wird, und abstraktem Konstruktivismus, wie er erst im 20. Jahrhundert erfunden wurde. Seine „Raumbilder“ sind realistisch und abstrakt zugleich, gegenständlich und ungegenständlich.
Mehr noch: das Quadrat, das vor rund hundert Jahren Kasimir Malewitsch erfand, um damit dem Dingcharakter, also dem Abbildcharakter der Malerei zu entgehen, wird bei Reuter zum Inbegriff des Dings an sich. Das Quadrat ist Hauptdarsteller auf seinen Bildern –
Hauptdarsteller und Spielmaterial, denn nachdem Reuter Jahre hindurch immer wieder klare Räume mit seinen Bildern evoziert hatte, mit senkrechten und waagrechten Kanten, begann er plötzlich, Rundungen in seine Malerei einzuführen.
Die immer noch aus lauter Quadraten konstruierten Bilder scheinen sich zu wölben, Wellen zu bilden und sind doch, wenn man sie von der Seite betrachtet, zweidimensional. Doch dann ging Reuter in seiner Erkundung des Quadratischen einen Schritt weiter. Manche seiner Bilder wölben sich tatsächlich in den Raum – und der Betrachter muss sich die Frage stellen, ob das Quadrat dann immer noch ein Quadrat ist? Dasselbe gilt für das Phänomen Ei. In einem Fall hat Reuter nur den Eindruck eines eiförmigen Gebildes erweckt. In einem anderen hat er tatsächlich ein Ei geformt – aus Quadraten, was nicht die Quadratur des Kreises wäre, sondern die Rundung des Quadrats, ein Widerspruch in sich.
So hat Reuter in den letzten Jahrzehnten immer wieder den Betrachter vor die Frage nach dem eigentlichen Wesen des Quadrats gestellt. Diente es ihm anfangs dazu, die Illusion klar definierter, ja sogar real anmutender Räume zu schaffen und dabei deutlich zu machen, welche Rolle bei dieser Raumillusion das Licht spielt, machten sich Anfang des 21. Jahrhunderts die Quadrate plötzlich selbstständig
Waren sie bis dahin gewissermaßen Bauteile einer Wand, so fingen sie nun an, selbstständige Bildelemente zu werden und vor einer Wand zu schweben. Und wieder wirbelte Reuter die in der Geschichte der Malerei so lange gültigen Dimensionen durcheinander. Denn was eigentlich Wand, allgemein also Hintergrund, sein müsste, vor der die Quadrate nunmehr zu schweben scheinen, ist nichts als das Weiß der Leinwand.
Entscheidend ist bei alledem das Wort „scheinen“, denn bei genauerem Hinsehen ist nichts auf diesen Bildern so, wie es auf den ersten Blick wirkt: Die Räume sind nicht Räume, sondern Konstrukte aus Quadraten, die Zentralperspektive ist nur ein Spiel mit der Tradition dieser Darstellungsmethode, und jeder Eindruck von Raumrealität ist reine Illusion – die Magie des Quadrats.
„Hans Peter Reuter. Konstruktive Romantik“, Galerie Schlichtenmaier, Schloss Dätzingen, Grafenau bis 13.5.2023