Was genau geschah am 30. Januar 1889 im Jagdschloss Mayerling hätte nach dem Willen des österreichischen Kaiserhauses nie an die Öffentlichkeit dringen sollen. Fest steht, dass Kronprinz Rudolf mit einem Kopfschuss tot aufgefunden wurde, neben ihm ebenfalls erschossen seine blutjunge Geliebte Mary Vetsera, sehr wahrscheinlich von ihrem Geliebten getötet. Rudolf war ein zerrissener Charakter, möglicherweise durch die sadistische Erziehung durch einen Major psychisch gebrochen, ein Mann, der in Liebesaffären und Drogen seine Flucht suchte. 1978 hat Kenneth MacMillan das Drama für Covent Garden in einem Ballett verarbeitet. Jetzt hat das Stuttgarter Ballett diese Choreographie in neuer Ausstattung herausgebracht.
Friedemann Vogel © Stuttgarter Ballett
Selbstsicher steht er da, begeistert die Damenwelt durch große Sprünge, Pirouetten, tänzerische Bravour und ist doch, wie MacMillans Ballett gleich zu Beginn zeigt, ein Einsamer, dem die Welt nichts sagt und der der Welt nichts zu sagen hat, ein Mann, der echter Gefühle nicht fähig zu sein scheint und doch versucht, etwas zu spüren. Friedemann Vogel dürfte mit diesem Rudolf die Rolle seines Lebens gefunden haben – tänzerisch anspruchsvoll, psychisch eine Herausforderung, schauspielerisch eine Achterbahnfahrt. Allein wie er die sieben Pas de deux meistert mit ihren unterschiedlichen Stimmungslagen und Haltungen den Partnerinnen gegenüber ist eine Glanzleistung. Gleich zu Beginn brüskiert er beim Hochzeitsball seine Ehefrau Stephanie und tanzt mit deren Schwester, die sich ziert und peinlich berührt ist, was Veronika Verterich in dieser kurzen Rolle großartig herausarbeitet. In der Hochzeitsnacht schließlich zeigt er seine sadistische Seite. Eben noch hatte seine Frau ein Negligé für die Hochzeitsnacht ausgesucht und in Vorfreude geschwelgt, da schlägt ihr Hochgefühl in Entsetzen um, denn Rudolf erscheint mit Pistole und Totenschädel in der Hand. Was dann folgt, kommt einer Vergewaltigung gleich. Da wird die Partnerin mehr gestoßen und geworfen denn getragen und gehoben. Dennoch sucht Stephanie seine Nähe – Diana Ionescu meistert hier ein Wechselbad der Gefühle.
Schließlich die eiskalte Arroganz seiner ehemaligen Geliebten gegenüber, die dennoch versucht, ihn wiederzugewinnen und ihm dann intrigantenhaft Mary Vetsera zuführt – Alicia Amatriain brilliert in jeder dieser Stimmungslagen. Das sind aufregende Ballettszenen, bis hin zur einzig wahren Liebe zwischen Rudolf und Mary. Großartig arbeitet MacMillan da mit Kontrasten.
Elisa Badenes, Friedemann Vogel © Stuttgarter Ballett
Hatte es Stephanie vor dem Totenschädel gegraust, nimmt Mary ihn spielerisch an sich und tanzt verliebt mit Schädel und Pistole. Zusammen mit Rudolf ergibt sie dann ein Paar, das sich gesucht und gefunden hat, in perfekter Harmonie der Posen – Mann und Frau als untrennbare Einheit. Elisa Badenes gelingt grandios der Übergang vom verspielten Mädchen zur liebenden, dem Geliebten mit jeder Faser ihres Körper und ihrer ganzen Seele anverwandelten Frau, die zugleich ihr eigenes Ich behauptet.
Faszinierend auch andere Charakterisierungen. Rudolfs Mutter tanzt ungeniert mit ihrem Geliebten, schenkt ihrem Mann zum Geburtstag ein Porträt von dessen Geliebter – kein Wunder, das Sohn Rudolf in einer solchen Umgebung nicht zu einer vernünftigen Gefühlskultur fand. Er sucht die Nähe seiner Mutter, doch sie wahrt Distanz.
Doch die großartigen Tanzszenen machen nicht einmal eine Dreiviertelstunde in einem über dreistündigen Ballett aus. Der Rest krankt zum einen an einer schlechten Dramaturgie. Da werden Schautänze absolviert, wie man sie vor hundert Jahren in einer alten Schwanensee-Choreographie präsentierte, Szenen werden detailreich auf die Bühne gebracht, die zur eigentlichen Handlung kaum etwas beitragen wie etwa eine Jagdszene, in der Rudolf einen Mann erschießt. Dass er dabei keine Reue zeigt, wirft zwar ein Licht auf seinen Charakter, doch der war auch vorher schon hinreichend porträtiert. Umständlich legt Rudolfs ehemalige Geliebte der jungen Mary die Karten, um ihr vorzugaukeln, der Mann sei ihr vorbestimmt.
Zum zweiten bieten diese Szenen tänzerisch zu wenig. Pantomimisch werden Rudolfs politische Neigungen angedeutet, tänzerisch wird hier kaum etwas übermittelt. Zudem konnte sich MacMillan nicht von der historischen Vorlage lösen. So fühlt man sich über weite Strecken in einer Geschichtsstunde oder einem Historienfilm. Historische Fakten müssen in dieser Fülle nicht in ein Ballett eingebracht werden.
In diese Gefahr, im Historischen, Bilderhaften steckenzubleiben, hätte auch Jürgen Rose geraten können. Der für seine historische Detailtreue berühmte Bühnenbildner hat das Ballett für Stuttgart völlig neu ausgestattet mit rund zweihundert Kostümen, von denen keines dem anderen gleicht. Das hätte eine Ausstattungsrevue werden können, doch Rose hat auch psychologischen Feinsinn, und so hat er das Bühnenbild ganz in Grautönen gehalten, inspiriert von alten Fotografien aus jener Zeit. Damit rückt er das ganze äußere Handlungsgeschehen in eine Art Traumwelt, verleiht ihm etwas Unwirkliches, während nur die Figuren in ihren farbigen Kostümen Realität gewinnen. So wird die Ausstattung zur heimlichen Hauptfigur.
Doch auch das ändert nichts daran, dass in diesem Ballett eine emotionale Nähe zu den Figuren kaum aufkommt. Ein tiefes Thema wurde letztlich nur an der Oberfläche abgehandelt.