Es könnte ein Drama in einem Kitschroman aus der Alpenwelt sein, in dem der Held der Angebeteten unter Gefahr, sein Leben aufs Spiel zu setzen, einen Enzian pflückt, die Nebenbuhlerin die Heldin fast in den Tod treibt und am Ende doch alles glücklich ausgeht: Bellinis 1831 uraufgeführte Oper La Sonnambula lässt kaum ein Handlungsklischee aus, brilliert aber mit Koloraturen und hochdramatischen Ausbrüchen, die freilich erst von einer Callas wieder für die Opernbühne des 20. Jahrhunderts entdeckt wurden. Dass Jossi Wieler und Sergio Morabito, die bekannt sind für ihre genaue Lektüre der Partitur und eine fast tiefenpsychologische Auslegung der Figuren, nicht diese plakative Vordergrundhandlung auf die Bühne bringen, versteht sich von selbst.
Dabei sieht am Anfang alles nach Alpenfolklore im besten Anzengruberschen Sinn aus. Anna Viebrock hat ein Tonnengewölbe als Bühnenbild entworfen, das man ohne Weiteres als dörfliche Gaststube deuten kann, aber auch als bunkerähnliches Gefängnis. Die Bauerngemeinde findet sich alsbald ein, schließlich soll Hochzeit gefeiert werden zwischen Elvino, dem reichsten Großbauern des Ortes, und der Schönsten des Dorfes, die allerdings nicht vom Ort ist, und hier setzt die Stuttgarter Regie an. Anstatt einfach die Liebe zwischen beiden als gegeben zu akzeptieren, hinterfragen sie von
Anfang an die vordergründige Situation, und die ist alles andere als eindeutig. Dass sich der reichste junge Mann im Ort für die Schönste entscheidet, ist verständlich, aber warum ausgerechnet für eine, deren Herkunft zweifelhaft ist? Amina ist Waise, dazu noch unehelich zur Welt gekommen. Ihre Pflegemutter ist natürlich begeistert über die unerwartet gute Partie, Helene Schneiderman charakterisiert diesen Überschwang hinreißend glaubwürdig. Sie kleidet ihre Pflegetochter für die große Feierlichkeit ein, doch Wieler und Morabito lassen den Akt aussehen, als würde das Mädchen in eine Zwangsjacke gesteckt, und Amina lässt alles willen- und regungslos über sich ergehen. Die Zukunft, so wird von Anfang an deutlich, ist kein Zuckerschlecken, sondern Zucht und gewaltsame Einordnung in bestehende Strukturen. Wie ein Gespenst aus der Vergangenheit tritt dazu auch noch die wahre Mutter der Braut auf. In welcher Beziehung der Fremde, der in das Dorfgeschehen platzt – ein gewisser Rodolfo -, zu ihr steht, bleibt in der Schwebe. Die Braut scheint ihn an seine Vergangenheit zu erinnern. Die gespenstische (stumm bleibende) Frau sitzt alsbald bei ihm am Tisch: Ist er Aminas Vater oder der Sohn des alten Gutsherrn, der wiederum Aminas Vater sein könnte?
Dass sie, die zum Schlafwandeln neigt, ausgerechnet in dessen Zimmer landet, ist pikant, wird vom Bräutigam denn auch sofort falsch gedeutet; das Volk ist aufgebracht. Wieler und Morabito schälen die subkutanen Hintergründe subtil mit leisen Andeutungen heraus und lassen sie zugleich ganz realistisch wirken. Bei Bellini stürmen die Dörfler aufgebracht übers Land, um den Grafen im Gasthof aufzusuchen, und preisen dabei die Schönheiten der Natur. In Stuttgart aber gibt es keine freie Landschaft auf der Bühne: Anna Viebrock ist eine Bühnenbildnerin der geschlossenen Räume. So findet denn ein Dörfler, während er mit seinen Kollegen das Zimmer des Grafen plündert, in dessen Gepäck einen Baedekerreiseführer, liest darin – und so erklären sich die ausgiebigen Landschaftsbeschreibungen. So werden Librettoeinfälle aus dem 19. Jahrhundert mit einem Bühnenbild des 20. Jahrhunderts subtil vereint.
Durch ein umgekipptes Rotweinglas im Bett des Grafen lassen die Regisseure den Verdacht einer außerehelichen Entjungferung ganz plausibel erscheinen – die Verstoßung der ohnehin nicht zur Dorfgemeinschaft gehörenden Braut wird unvermeidlich.
Wenn sich am Ende doch alles auflöst und die Neigung der Braut zum Schlafwandeln von allen akzeptiert wird, ist freilich nur der Bräutigam glücklich. Amina sitzt neben ihm auf dem Sofa, mit versteinertem Gesicht und unfähig zu einem klaren Gedanken. Sie war von Anfang an Opfer einer verkrusteten dörflichen Gemeinschaft und wird es bleiben, auch und gerade als Braut des reichsten Bauern. So wird, was bei der Lektüre des Librettos wie eine Klischeetragödie aus dem Alpenland wirkt, ein großes Psychodrama voller Wahrhaftigkeit und sozialer Sprengkraft, ein Meisterwerk. In dieser Regie entstand ein Operndrama von düsterer Dramatik, in der Charaktere und deren soziales Umfeld eine ganz neue Dimension erhielten.