Die Premiere am 8. November beim Staatsballett Hannover mit Choreographien von Altmeister Jiří Kylián, Lukáš Timulak und erstmals für eine deutsche Compagnie Juliano Nunes, coronatauglich choreographiert, war mit Publikum geplant, wurde aber jetzt vor fast leerem Haus (mit Ausnahme des Ballettpersonals) getanzt und als Livestream der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Er bleibt bis Ende November auf Abruf bereit. Bei einem Livestream des Stuttgarter Balletts kurz davor wählte man eine Videoästhetik, die das Zuschauererlebnis im Theater wiedergab: eine feste Perspektive mit Totale und Nahaufnahme. In Hannover entschied man sich für eine eher filmische Ästhetik mit wechselnden Perspektiven, die brillant realisiert wurde und vor allem für das erste Stück eine ideale Wahl war.
Juliano Nunes, Moonlight. Tänzer: Adam Russell-Jones, Davide Sioni © Foto: Bettina Stöß
Denn in seiner neuen Arbeit Moonlight, die in Hannover uraufgeführt wurde, entwickelte Juliano Nunes ein dramatisches Geschehen, das keinen Mittelpunkt hat. Immer wieder ergeben sich an dem einen oder anderen Bühnenplatz kleine Szenen, die nicht selten von einem einzigen Akteur bestritten werden. Während dieser „Soli“ verharren die übrigen meist in Ruhe, entweder in einer eingefrorenen Bewegung oder liegend am Boden. Dadurch ist trotz dieser Ruhestellung vieler ein Ballett in ständiger Bewegung entstanden – und eine Arbeit mit höchst unterschiedlichen Stimmungen.
Damit entspricht Nunes in perfekter Weise der von ihm gewählten Musik, dem dritten Satz von Beethovens Hammerklaviersonate. Selten verändern sich in einem Musikstück derart rasch die atmosphärischen Schwingungen; jeder Akzent führt in neue Richtungen, jede Modulation in andere Gefühlswelten – und genau das lotete Nunes aus. Wie bei ihm ist eine Choreographie nicht oft derart Note für Note mit der Musik verschmolzen, ohne sie jedoch einfach nur tautologisch zu verdoppeln. Stets findet Nunes ein tänzerisches Äquivalent für das musikalische Geschehen, jede Modulation findet ihre Entsprechung im Stimmungswechsel. Es ist ein Stück gewissermaßen im ständigen Wechsel zwischen tänzerischem Dur und Moll.
Das ist zunächst rein abstrakter Tanz, und doch hat man unentwegt den Eindruck, konzentrierten, sehr persönlichen Minidramen beizuwohnen, die sich in kleinen Gesten und Bewegungen manifestieren. Es sind hochemotionale Ausdrucksformen, mit denen die Protagonisten ihr Inneres zum Ausdruck bringen: Da versuchen die Tänzerinnen und Tänzer, mit den Armen und Händen mal die Welt zu sich heranzuziehen, mal auch sie von sich fernzuhalten, Sehnsüchte klingen an nach einem idyllischen Leben, das jedoch immer wieder durch schmerzliche Körperverzerrungen als unmöglich dargestellt wird.
Gelingt es Nunes, trotz abstrakter Bewegungsabläufe reales Leben zu evozieren, ging Lukáš Timulak den entgegengesetzten Weg, als er 2011 für das Nederlands Dans Theater Masculine/Feminine kreierte. Er erfand Alltagsszenen aus dem Leben von Mann und Frau in unserer Gesellschaft, und man meint immer wieder, einem leicht satirisch überhöhten Spielfilm über den Alltag der beiden Geschlechter beizuwohnen. Dennoch kippt bei ihm der Tanz aus der Alltagsgeste immer wieder um in reines Tanzgeschehen – eine Gratwanderung auch dies.
Timulak hat ausgehend von dem Buch „Men are from Mars, Women are from Venus“ von John Gray die Unterschiedlichkeiten des Weiblichen und des Männlichen in knappen Szenen choreographiert. Da erweisen sich die Frauen in ständiger Aktion, die auch in Aktionismus ausarten kann, herausgefordert von den kleinen Aufgaben des Haushaltsalltags, während die Männer meinen, sich großen kämpferischen Herausforderungen stellen zu müssen, aber auch mal einfach einen Stuhl greifen und sich vor den Fernsehapparat setzen.
Lukáš Timulak, Masculine/Feminine. Tänzer: Sandra Bourdais, Lilit Hakobyan,Giada Zanotti © Foto: Bettina Stöß
Dabei werden beide Geschlechter kritisch beleuchtet – das Machogehabe von Männern ebenso wie das Konkurrenzdenken von Frauen, wenn sich in einem Raum drei von ihnen in demselben Outfit wiederfinden. Das ist voller Klischees und soll es auch sein, doch bleibt das Ganze an der spielerischen Oberfläche, wenn auch witzig ausgedacht und perfekt von den Tänzerinnen und Tänzern des Staatsballetts umgesetzt.
Ganz anders Jiří Kyliáns Double You. Hier gibt es nur noch das Individuum, einen Menschen in existentieller Notlage. Kylián schuf das Werk 1994 für den Tänzer Gary Chryst, der im Alter von vierzig mit dem Ende seiner Karriere und privatem Unglück konfrontiert war. Darauf spielt die Anfangssequenz an:
Der Tänzer, in diesem Fall Tommy Rous, steht mit dem Rücken zum Publikum. Regungslos mit ausgestreckten Armen versucht er, den roten Bühnenvorhang, der sich zu schließen droht, aufzuhalten, und das gelingt ihm auch; noch einmal gehört die Bühne ihm, doch die Vorboten des Karriereendes sind unaufhaltsam vorhanden, zwei riesige, ständig nach rechts und links ausschlagende Pendel.
Das Stück beginnt in völligem Schweigen. Nahezu verzweifelt versucht der Tänzer, mit seinem Körper wieder eins zu werden. Es sind tastende Versuche, mehr Andeutungen denn richtig ausgeführte Bewegungsabläufe. Dann setzt die Musik ein – die Allemande aus Bachs Partita Nr. 4 – und allmählich findet der Tänzer zu sich. Die Musik wird ihm Partner, lebensnotwendiger Halt. Am Ende dieser nur knapp viertelstündigen Choreographie, die gleichwohl eine ganze Lebensreise durch Höhen und vor allem Tiefen des menschlichen Lebens beinhaltet, kehrt das Stück in die Ausgangssituation zurück, nur hat sich der Tänzer jetzt zu uns umgedreht, so als habe er seinen anfänglichen Widerstand aufgegeben. Wieder streckt er die Arme aus, doch diesmal darf sich der Vorhang schließen – ein grandioses Lebensdrama in Form des Tanzes.
Der Titel des Abends – Rastlos – passt uneingeschränkt jedoch nur zu Timulaks rasant dahinwirbelndem Stück. Schon Nunes‘ Moonlight ist in weiten Teilen verhalten, verrät eher innere Unruhe, die sich ja auch in Stillstand ausdrücken kann, und bei Kylián ist es eher innere Verzweiflung. Besser wäre vielleicht das Problem Leben, das mal eine Lösung anbietet, oft aber auch im Nichtgelösten verbleibt.