Oper und Politik standen einander schon immer nahe. Mozart griff ein heikles Thema auf, als er Figaros Hochzeit schrieb, der Gefangenenchor aus Nabucco wurde zur heimlichen Nationalhymne der italienischen Freiheitsbewegung, und Marquis Posas Ruf nach Gedankenfreiheit im Don Carlos war schon zu Schillers Zeit ein Politikum. Aber Nabucco spielt in alttestamentarischer Zeit, Don Carlos war schon Jahrhunderte Geschichte, als Schiller und später Verdi ihm ein Denkmal setzten, lediglich Mozart bzw. seine Vorlage von Beaumarchais handelte ein zeitlich naheliegendes Thema ab. Geradezu hochaktuell aber wurde im 20. Jahrhundert John Adams, als er die Begegnung zwischen Richard Nixon und Mao Tse-tung zum Thema einer Oper machte, denn diese Begegnung lag nur fünfzehn Jahre vor Entstehung der Oper. Die Oper Stuttgart hat sie nun neu herausgebracht.
Die Ankunft ist fulminant. Aus der Luft senkt sich Richard Nixon auf die chinesische Erde und bringt auch gleich sein Land symbolisch mit in Form einer großen amerikanischen Flagge, die nicht die üblichen Farben trägt, sondern ganz in Gold gehalten ist. Aber auch Maos China lässt sich nicht lumpen, schwenkt rote Flaggen, und Regisseur Marco Štorman lässt sie auch von den Rängen des Publikumsraums herunterhängen, denn der Chor, der das chinesische Volk verkörpert, sitzt mitten im Publikum. Das ist große Show, und Štorman trifft damit genau den Charakter von Adams‘ Oper, zumindest in den beiden ersten Akten. Denn ein Staatsbesuch ist nichts anderes als Show, um inhaltliche Details geht es hier weniger, eher um Medienwirksamkeit. Das ist zu Zeiten eines Donald Trump so, das war auch zu Zeiten eines Richard Nixon nicht anders. So giert dieser Präsident nach dem Mikrofon, das die Chinesen allerdings so hoch hängen, dass er kaum richtig hineinsprechen kann. Librettistin Alice Goodman wollte zwar eine „heroische Oper“ schaffen, und der Stoff war ja auch entsprechend, aber John Adams konterkariert das Heldenhafte in seiner Musik nahezu von Anfang an. Wenn Richard Nixon bei der Begrüßung in China das große Wort schwingt, dann wirkt die Musik alles andere als seriös, dieser Nixon passte eher in ein Musical à la Oklahoma, nicht auf das politische Parkett. Michael Mayes gestaltet das mimisch und stimmlich grandios. Die Brechung gelingt faszinierend – und gebrochen wird in dieser Inszenierung nahezu alles.
Jarrett Ott (Chou En-lai). Foto: Matthias Baus
Matthias Klink kommt als Mao in perfektem weißem Anzug, gestaltet diesen Machtpolitiker mit schneidendem Tenor und hochmütigem Auftreten. Alle Sänger der großen sechs Partien erfüllen die Rollenanforderungen stimmlich und mimisch hervorragend, und allen gelingt auch die Doppelbödigkeit der Charaktere, die Regisseur Štorman klug aus der Musik herausgelesen hat. John Adams hat zwar den Orchesterpart streng minimalistisch komponiert, und André de Ridder dirigiert die vertrackten rhythmischen Verschiebungen präzise, aber Adams erlaubt sich als Gegenpart im Gesang die große Geste, die auch Anleihen bei der großen europäischen Operntradition bis hin zur Salome eines Richard Strauss enthält. So entlarvt er in der Musik die nach außen vorgegebene Rolle. Dieser Mao will als Philosoph brillieren, ist aber in seinen Äußerungen ähnlich worthülsenhaft wie sein amerikanischer Partner. Nahezu jeder in diesem Machtpoker um die größte Wirkung wird in seinem angestrengten Bemühen entlarvt.
Das gilt auch für Maos Frau, die im zweiten Akt ein revolutionäres, ihren Mann verherrlichendes Ballett aufführen lässt, und das gilt für Nixons Berater Kissinger. Lediglich Chou En-lai, der chinesische Premierminister, und Pat, die Ehefrau des Präsidenten, sind von menschlicher Tiefe. Katherine Manley gestaltet das mit lyrischem Sopran emotional und zugleich ladylike, Jarrett Ott mit warmem, eindringlichem Bariton.
Ihm kommt denn auch im dritten Akt der Part der moralischen Integrität zu, denn in diesem Akt treten alle Figuren von ihrer Öffentlichkeitsrolle zurück. Pat und Richard Nixon schwelgen in Erinnerungen an die frühe Ehezeit, Mao und seine Frau denken an das Kennenlernen zu Beginn der Kulturrevolution. Hier hat Štorman das Gegenteil zu dem Showcharakter der beiden ersten Akte inszeniert. Bei ihm lassen die Figuren nicht nur ihre öffentliche Rolle beiseite, bei ihm kommen die Sänger sogar fast privat auf die Bühne, sodass Katherine Manley auch auf ihre blonde Perücke verzichten darf, die sie als Pat zuvor getragen hatte. Um diese Intimität ungehindert zum Publikum dringen zu lassen, hat Štorman sogar auf das Live-Orchester verzichtet, den Orchestergraben abgedeckt, sodass die Sänger dem Publikum ganz nahe kommen, Michael Mayes sogar bis in die Sitzreihen vordringen kann. Ob dazu der Griff zur Musikkonserve aus dem Lautsprecher nötig war, bleibt die Frage, andererseits gelingt Štorman hier, wiederum ganz aus der Musik heraus gedacht, eine ganz eigene Atmosphäre, ein Kammerspiel, bei dem die Sänger fast nach innen hinein in ihre Psyche zu singen scheinen anstatt nach außen hin. Und hier hat er auch Szenen gefunden, die auf ganz eigene Weise dem Charakter von Adams‘ Oper entsprechen, denn in den beiden ersten Akten hat sie ja, wenn auch musikalisch ironisch gebrochen, historische Chronikqualität, sie zeigt eine Revue der aktuellen Geschehnisse, und diese Revue stellt Mao von Seiten der chinesischen Gastgeber als großen Volkshelden heraus. Im dritten Akt zeigt Štorman die wahre historische Realität. Da stehen die während der Kulturrevolution zum Tode Verurteilten in einer Reihe, die Namen auf den Schildern vor ihrer Brust sind bereits ausgestrichen, und wenn Mao die Reihe abschreitet wie bei einer Militärparade, fallen nach und nach die Delinquenten tot um. Das entspricht ganz dem Part, den Chou En-lai hier übernimmt. Am Ende fragt er deprimiert, ob wirklich alles zum Guten gewesen sei, was sie in ihrer Revolution getan hätten. Marco Štormans Regie gibt die Antwort.