Plädoyer für den Zweifel: Das 1. Evangelium von Kay Voges am Schauspiel Stuttgart

Das Abendmahl, die Fußwaschung, der Judaskuss, die Geißelung, Kreuzigung – die Passion Christi hat sich fest ins kulturelle Gedächtnis der Christen eingeprägt und das mit ganz konkreten, durch die Kunstgeschichte gefestigten Bildern – das Abendmahl durch Leonardo da Vincis Wandgemälde, die Pietá durch Michelangelos Steinplastik, die Kreuzigung durch Matthias Grünewald. Doch gibt es auch andere, unkonventionelle Bilder derselben Geschehnisse, so schuf Francis Bacon mit seinem Kreuzigungstriptychon ein Szene der körperlichen Gewalt schlechthin. Der Regisseur Kay Voges hat dieses Phänomen kultureller ikonographischer Festlegung und Offenheit zum Thema seiner Passionsgeschichte gemacht. Am Schauspiel Stuttgart inszenierte er Das 1. Evangelium, mithin also das des Matthäus.

Foto: JU

Das Stück hat schon begonnen, noch ehe der Vorhang sich hebt. Während die Theaterbesucher ihre Plätze einnehmen, werden sie eingehüllt vom Anfangschor von Bachs Matthäuspassion – sie ist ja eine der Standardassoziationen, die dem gebildeten Christen zur Passion in den Sinn kommen, oder sind es die Passionserzählungen, die der Katholik in so mancher Predigt in der Kirche zu Gehör bekam? Regisseur Kay Voges hat den Theaterraum mit Weihrauchduft aromatisiert – zwei Klischeevorstellungen von zahllosen, die sich um die Leidensgeschichte Christi ranken, und genau darum geht es dem Regisseur. Er will nicht à la Oberammergau die Leidensgeschichte inszenieren und auf die Bühne bringen, er will hinterfragen, welche Bilder und Assoziationen sich im Verlauf der Jahrhunderte zu diesem Geschehen angesammelt und überlagert haben. Daher wählte er denn auch für seine zahlreichen Bibelzitate nicht die bekannte Einheitsübersetzung, sondern eine Interlinearübersetzung, die also Zeile für Zeile vorgeht unter Missachtung so mancher grammatikalischer Bezüge. So hört man immer wieder Bekanntes – und ist doch zugleich irritiert. Bach, Weihrauch und Übersetzung kennzeichnen die Pole dieser Theaterarbeit, die in der ersten halben Stunde den Betrachter geradezu überfallartig überwältigt: Es ziehen sattsam bekannte Motive wie die Pietá vorbei, die Darstellerin des Jesus trägt eine Dornenkrone, die auf keinem Passionsbild fehlen darf, aber es ist eine Frau, nicht ein Mann. Voges irritiert, er hinterfragt Bekanntes und positioniert Neues. So lässt er fast überlebensgroß eine Marienfigur auftreten, wie wir sie aus der Kunstgeschichte kennen, mit rotem Kleid, blauem Umhang und Strahlenkranz, eine Himmelskönigin – aber was, so fragt im selben Augenblick die Schauspielerin, die die Maria spielt, hat das mit mir zu tun? Nichts, außer, dass es durch die Kunstgeschichte sanktioniert wurde.

So ist alles da, was man mit der Passion in Verbindung bringt, die Kreuztragung, bei der ein Soldat dem Gepeinigten die Last abnimmt, die Geißelung, das Abendmahl, aber auch allgemeine Phänomene dessen, was wir mit Christus untrennbar verbinden, finden sich: die Ohrfeige beispielsweise, denn Jesus, der für Sanftmut und Frieden einsteht, will ja, dass man auch die andere Wange hinhält. Selbst Salome macht in diesem Assoziationsparcours Sinn, denn sie wollte, dass der Prophet ihren Mund küsse, wie es bei Richard Strauss heisst, Jesus wird durch einen Kuss seines Jüngers verraten.

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Mit Jesus assoziiert man den Gekreuzigten, aber auch den Außenseiter, der in einer psychiatrischen Anstalt ans Bett gefesselt eben nicht so ist, wie die Welt den Menschen gerne hätte. Jesus kann auch der Suchende sein wie später Faust, oder Superman, der eine bessere Welt anstrebt. Das Assoziationspektrum dieses Theaterabends kennt keine Grenzen.

Vordergründig geht es um einen Regisseur, der einen Passionsfilm drehen will, der sich zunehmend von seinem Stoff ergriffen wird und sich gegen jene, die ihn nicht ernst nehmen wollen, den Produzenten inbegriffen, für sein großes Projekt einsetzt. Diese Szenen zählen nicht zu den Stärken des Abends, obwohl auch hier mehrere Ebenen angesprochen werden, denn so manches Mal nimmt Voges hier auch seine eigene Theaterästhetik der gewollten Überforderung des Publikums auf die Schippe. Und auch in dieser Handlungssphäre ging er durchdacht vor: Jesus wird von der Freundin des Regisseurs gespielt, als ambitionierte Filmcrew hat man kein Geld für Stars, Judas wird verkörpert von dem besten Freund des Regisseurs; auch das passt.

Doch eigentlich will Voges das Publikum auf sich selbst verweisen, will, dass es seine klassischen Vorstellungen selbst überprüft, stellt Alternativformulierungen in den Raum: Im Anfang war das Wort, ja gewiss, aber könnte es nicht auch die Erde sein, der Mensch, das Wasser? Alternativen entdecken, Verholztes, Verkrustetes aufbrechen. Lediglich in der letzten halben Stunde verlässt Voges seine konzentrierte Tour de force und lässt den Schauspieler Holger Stockhus als Pontius Pilatus minutenlang eine komödiantische Knallcharge spielen. Hier sprengt er sein Konzept, seine Idee, sein ganzes Stück. Ohne diese – und so manche Filmszene zwischen Regisseur und Produzent – wäre ihm ein perfekter Theaterabend gelungen, der nichts Geringeres zum Ziel hat, als den Zuschauer zunehmend zweifeln zu lassen, ihn abzubringen von vorschnellen Festlegungen, denn im Zweifel, so lautet die letzte Schrifteinblendung dieses Multimediaabends, immer für den Zweifel. Zweifelhafte Gewissheiten gibt es in unserer Welt ohnehin zu viele.

Ein Gedanke zu „Plädoyer für den Zweifel: Das 1. Evangelium von Kay Voges am Schauspiel Stuttgart

  1. Walter Neef

    Dein Beitrag hat mich mal wieder verzückt, lieber Rainer. Sobald wie möglich werde ich mit Regina ins Schauspielhaus du diesen Werk gehen.
    Liebe Grüße Walter

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