Jahrhundertelang galt das Bild als Fenster zur Welt. Farbe, Linie und Fläche dienten zur Gestaltung einer gegenständlichen Welt, die lange die reale abzubilden trachtete. Dieser Bildbegriff löste sich bereits im Lauf des 19. Jahrhunderts auf, die Zentralperspektive wurde zunehmend bedeutungslos, der Blick konzentrierte sich auf die Farbe und ihre Qualitäten, bis schließlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts jegliche bildnerische Repräsentation aufgegeben wurde. Alexander Rodtschenko kreierte 1921 die Reine Farbe Rot Gelb und Blau, Kasimir Malewitsch erhob die Kunst zum Selbstzweck, und Theo van Doesburg schuf die auf Linie, Farbe und Fläche als einzigen Gestaltungsmitteln beschränkte Konkrete Kunst. Dass sie im Gefolge den Bildbegriff in ganz neue Dimensionen vorantreiben konnte, zeigt eine Ausstellung im Kunstmuseum Reutlingen/konkret: Malereikonkrethochdrei.
Sind das nun vierundsechzig einzelne monochrome Bildtafeln, die Aurélie Nemours vor dreißig Jahren für die Reutlinger Stiftung Konkrete Kunst schuf, oder ist es ein einziges Bildprojekt, denn die Abfolge der Farben folgt einem ausgeklügelten Konzept, und damit hängt das Bild nicht einfach nur an der Wand oder liegt auf dem Boden, es greift in den Raum – und zugleich in die Zeit, denn das Abschreiten des zweiundfünfzig Meter langen Werks dauert.
Das Bild wird zum Raum, das hatte bereits vor einem knappen Jahrhundert Gottfried Honegger vorgeführt, als er unter dem Bild nicht nur die eigentliche Bildfläche verstand, sondern auch die schmalen Seiten des Bildes. Damit emanzipierte er das Bild von der reinen Malfläche und etablierte es als konkretes Objekt, also dreidimensional. Das machte er in den folgenden Jahrzehnten dann mit seinen Tableaux-reliefs deutlich. Mal schnitt er die obere Bildfläche auf und machte ähnlich wie ein Lucio Fontana das Bild zum Raum. Mal trug er Farbe so auf, dass sich Erhebungen ergaben, was sich in einem weißen Objekt zugleich zu einem Spiel mit Licht und Schatten ausweitete. In der Reutlinger Stiftung Konkrete Kunst ging er noch weiter. Für eine neun Meter lange und drei Meter hohe Wand schuf er eine aus zwei blauen Komponenten bestehende Arbeit, die in der Mitte leicht versetzt angebracht sind. So hat man den Eindruck, das Werk sei beliebig auseinander schiebbar. Bildelemente und Wand gehören untrennbar zusammen, sie ergeben erst gemeinsam das Bild.
Dieses In-den-Raum-Greifen spiegelt auch Guido Molinari vor. Bei seinen Bildern meint man, da seien schwarze geometrische Bildteile über die Fläche gewandert und wie in einem Filmstandbild angehalten. Man fragt sich unversehens, ob das schwarze Element in der Bildecke in das Bild hineinrutschen oder sich aus dem Bild verabschieden will. Das Bild scheint in Bewegung zu sein.
Jon Groom gestaltet die Öffnung des Bildes zum Raum mit rein farbtechnischen Mitteln. Er trug auf eine große Fläche zwei rechteckige Gebilde so auf, dass man den Eindruck hat, sie öffneten sich nach hinten quasi durch die Wand, als sei hier ein Fenster in eine andere Welt eingebaut, das freilich einen Durchblick verweigert.
Das alles ist reines Experimentieren mit der Form, kann aber durchaus auch inhaltliche Dimensionen bekommen. Bernard Aubertin schlug in Aluminiumplatten, die er übereinander gelegt hatte, mit dem Spitzeisen Löcher. Die rot bemalte „beschädigte“ gewissermaßen die darunter liegende, die Aubertin dann schwarz abflämmte und so gewissermaßen in ihrem „Opfercharakter“ deutlich machte. Gewalt und Zerstörung, Herrschaft und Verletzung sind hier die Themen, die er durch den Titel noch politisierte: Le deuxième mur d’Allemagne.
Paul Uwe Dreyer zeigt auf seinen Bildern, wie fragwürdig Begriffe wie Linie und Fläche sind. Bei ihm weiß man nie, ob eine Linie eine Fläche umgibt oder ob die Fläche unabhängig von der Linie existiert. Zudem zeigt ein chronologischer Vergleich mit früheren Arbeiten, dass all das seinen Ausgangspunkt in Bildern von Kirchenfassaden hatte, die mal als Fassade zu sehen sind, mal im Grundriss, mal in der Aufsicht, bis sich daraus nur noch die Linien und Flächen ergaben. So greifen seine Bilder nicht, wie die übrigen in dieser Ausstellung, in den Raum aus, sie haben den architektonischen Raum verinnerlicht.
Das alles ist nicht denkbar ohne die Revolutionen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Malewitsch und ein Rodtschenko mit ihrer Konzentration auf die reine Farbfläche ausgelöst hatten. Und so verneigt sich John Nixon in einer Hommage an Rodtschenkos rotes Farbfeld und Malewitschs schwarzes Kreuz – und fügte gleich noch die dritte Revolution dieser Jahre hinzu: Marcel Duchamps Readymade.
So wird Kunstgeschichte zur Konkreten Kunst – und das geht auch mit früheren Epochen. Andrea Staroske wählte sich für monochrome Farbtafeln die typischen Farben eines Dürer, Bellini oder van der Weyden. Sacra conversazione nennt sie eine solche Arbeit – hoch ironisch, denn die Farbtafeln sind mit Autolacken gespritzt, deren Marken genau angegeben sind – Lacke jener Gefährte also, die so manchem Besitzer geradezu heilig sind. Wenn sich in diesen Hochglanzflächen dann die ganze Umgebung spiegelt, nimmt ein solches Werk den ganzen Raum in sich auf – Malereihochdrei eben. Und: Konkrete Kunst kann auch humorvoll sein.
„Malereihochdrei. Vom Bild zum Raum“. Kunstmuseum Reutlingen/konkret bis 30.6.2019. Katalog 97 Seiten, 10 Euro.