Einst war sie ein Magnet, die Stadt, Inbegriff der Kultur und Zivilisation. Stadtluft mache frei, hieß es im Mittelalter, frei von Leibeigenschaft. Die Folge – eine Landflucht und damit eine zunehmende Enge in der Stadt, die alsbald ihr positives Image verlor und zum Moloch wurde. Die Gegenbewegung heute: Stadtflucht. Inzwischen gilt offenbar: Landluft macht frei. Das Kunstmuseum Reutlingen zeigt künstlerische Perspektiven auf das Phänomen Stadt: Urbane Landschaften.
Mit einer geradezu surreal anmutenden Komposition macht Otto Dix deutlich, was die Enge der Stadt bedeutet: Hektik, Lärm, Unmenschlichkeit. Das Individuum wird in Einzelteile zerlegt, taucht als Nummer auf. Ein freies Leben ist das nicht. Wenn Menschen bei Künstlern des 20. Jahrhunderts im Kontext der Stadt auftauchen, jedenfalls soweit es die Auswahl der Bestände des Reutlinger Kunstmuseums zulassen, aus denen diese Ausstellung erstellt wurde, dann melancholisch aus Fenstern blickend wie bei Werner Wittig. Kontakt mit den Mitmenschen gelingt da allenfalls noch mit einem kleinen Winken nach unten auf die Straße.
Dort ist die Existenz aber auch alles andere als idyllisch. Man muss schon hoch hinaufschauen, will man im Großstadtdschungel der Straßen den Himmel erblicken. Auf Karl Horst Hödickes schwärzlich-grauen Lithografien tut sich gerade einmal ein winziges kleines Stück Freiheit auf, eingerahmt von den unendlich hohen Hausfassaden – Fassaden, die jegliche Individualität vermissen lassen wie die Stadt aus Plattenbauten, die sich bis an den Horizont erstrecken, soweit das Auge reicht, so zeigt es Jan Brokof auf einem Holzschnitt.
Unwirtlich ist das Ambiente, das die Künstler zeigen. Dabei verzichten sie auf den erhobenen mahnenden Zeigefinger, doch was sie auf ihren Drucken gestalten, ist Mahnmal genug. Natur, Vegetation sucht man auf diesen Arbeiten vergebens, und wenn einmal ein Busch auftaucht, sogar als Titel eines Linolschnitts von Claas Gutsche, dann ist er schwarz; lebendig sieht anders aus.
Dabei ist diese Graphik ironischerweise ein „Farblinolschnitt“, die vorherrschende „Farbe“ aber ist Grau in allen Facetten, und das dominierende Material der Stadt ist, wie eine andere Arbeit von Gutsche im Titel nahelegt, Beton: Concrete.
Die Stadt infiltriert mit ihren starren architektonischen Strukturen alles urbane Geschehen. Bei Hannah Höch und Lyonel Feininger löst sich alles in prismatische Strukturen auf – Gebäude ebenso wie Natur. Dem Zugriff des Molochs Stadt scheint nichts zu entgehen.
Nur einmal finden sich organisch anmutende Linien und Gebilde. Doch mit seinen New York Lines porträtierte Martin Noël die Erschütterungsschäden, die der Bombenanschlag 1993 auf das World Trade Center in den Bodenplatten hinterlassen hat: Tod bzw. Leblosigkeit scheint das Zeichen der Stadt zu sein. Wenn Menschen auftauchen, dann allenfalls als Schimären, als Spiegelbilder ihrer selbst in den Schaufenstern bei Winand Victor, oder als wesenlose Chiffren, als lauter Alpha-Symbole bei Katsutoshi Yuasa.
Oder es bleiben vom städtischen Ambiente nur noch Strukturen übrig wie bei Ana Strika, kristallin anmutende Strukturen, nicht organisch wirkende. Eduardo Chillida hat lineare Gebilde als Symbol für konkrete Städte zu Papier gebracht, eine Art Stadtmauer, die kein Leben in sich beheimatet. Bei Gerhard Altenbourg ist die Welt buchstäblich mit Brettern vernagelt. Es bedarf keiner konkreten Porträts verheerender sozialer Lebensumstände, wie sie Max Beckmann porträtiert hat. Die Stadt, so legt diese vorzügliche Auswahl aus den Beständen des Kunstmuseums Reutlingen nahe, ist ist jeder Hinsicht ein Phänomen, das dem menschlichen Leben entgegenzustehen scheint. Bei Wolfgang Mattheuer schaut eine Reihe von Köpfen in die Zukunft, starr, unbewegt, ohne allzu große Hoffnung. Frei macht die Luft in der Stadt längst nicht mehr, sie scheint den Menschen gelegentlich eher das Atmen zu verwehren.
„Urbane Landschaften. Stadt und Architektur in der Kunst auf Papier von Max Beckmann bis Wolfgang Mattheuer“, Kunstmuseum Reutlingen bis 31.1.2021