„Mutabor“ ist das Zauberwort, mit dem sich in Wilhelm Hauffs Märchen Kalif Storch Menschen in Tiere verwandeln können und auch wieder zurück zu Menschen – wenn alles gut geht. Das Wort steht in einer Reihe mit dem „Sesam öffne dich“ aus Tausendundeine Nacht und dem „Simsalabim“ des Trickzauberers unserer Variétébühnen. Auf das Wort „Mutabor“ trifft man auch in der neuen Ausstellung von Jörg Mandernach in der Städtischen Galerie Tuttlingen – und weiß damit auch schon, worum es in Mandernachs Bildwelten geht: um Verwandlung.
Jörg Mandernach. What you see isn’t what you get, Ausschnitt. Foto: Horst Simschek
Im Untergeschoss der Städtischen Galerie in Tuttlingen hat Jörg Mandernach gewissermaßen sein Arbeitsarchiv ausgebreitet, zumindest Teile davon: Äste sind im Raum verteilt, in Vitrinen kleine Figürchen, Fotos, Skizzen, Maschinenteile – alles Dinge, die möglicherweise irgendwann einmal seine Fantasie angeregt haben oder noch anregen, denn Fantasie ist das zentrale Wort im Schaffen dieses Künstlers; sie bordet gewissermaßen über. Wenn man die Galerie betritt, dann weiß man kaum, wohin man schauen soll, man wird geradezu überwältigt von Bildern: riesengroße scherenschnittartige Zeichnungen an der Wand, die an Illustrationen des 19. Jahrhunderts erinnern, gelegentlich sogar von den Motiven her, wenn man zwei Rehböcke friedlich vereint beim Äsen und Ruhen sieht. Doch finden sich auch Köpfe, die an die Pop-Art erinnern – und von Gestalten der Popmusik inspiriert wurden wie etwa Neil Young oder Syd Barrett. Und auch die Computerwelt unseres Alltags findet sich – etwa in einem Scherenschnitt, der eine Männerfigur zeigt, die sich vor At-Zeichen kaum retten kann – der Mensch nicht mehr als eine Adresse im E-Mailverkehr.
Einen möglichen Schlüssel für den Betrachter könnte eine kleine Grafik liefern, die sich im unteren Stockwerk neben Mandernachs Archiv findet. „What you see isn’t what you get“ heißt sie – und genau das charakterisiert die Bildwelten, die Mandernach dem Besucher bietet. Nichts ist da so, wie es scheint. Die altmodische Technik des Scherenschnitts ist ins riesige Wandformat vergrößert und schon von daher der Pop Art des 20. Jahrhunderts zugehörig.
Jörg Mandernach. Neil. Foto: U. Schäfer-Zerbst
Figuren mischen sich mit spiegelverkehrten Darstellungen, Wörter tauchen auf und werden sogleich rückwärts gelesen zu rätselhaften Begriffen: „authentisch“ liest man da, doch authentisch ist hier gar nichts. „Bedeckung“ heißt ein anderes Wort, das im selben Bild gewissermaßen zurückgenommen wird durch ein „oder“ und zum „Rekonstrukt“ wird, zur Neukonstruktion. „Atem“ liest man an anderer Stelle und bekommt es zugleich rückwärts buchstabiert präsentiert; so wird aus der notwendigen Luft zum Leben der philosophische Begriff einer „Meta“-Welt.
Und dieses Spiel mit verschiedenen Realitätsebenen findet sich auch auf der kleinen Grafik im Untergeschoss. Ein Rehbock ist zu sehen – gezeichnet wie eine Comicfigur, also ein Gebilde der Fantasie. Doch die menschliche Gestalt ihm gegenüber wirkt nicht viel realistischer; sie löst sich in lauter Bildpixel auf wie ein stark vergrößertes Zeitungsfoto: Was ist Realität, was Fiktion?
Diese Frage zieht sich durch Mandernachs ganzes Schaffen, das in den letzten Jahren und erst recht in dieser Ausstellung einen Höhepunkt erreicht hat, weil sich hier alle Realitäts- und Bedeutungsebenen mischen. So hat er in den Hauptraum ein riesiges Mobile gehängt, dessen schwebende, aus Pappe ausgeschnittene Formen Schatten an die Wände werfen: Aus der Realität des Raums wird eine Traumwelt, und die wird noch überblendet durch Trickfilmprojektionen, in denen alles im Wandel ist. Mensch wird Tier, Zunge wird Wort, freundschaftliches Gespräch wird zum Zweikampf – Metamorphosen, wo man hinsieht, ständige Verwandlung.
„Mutabor“ heißt eine große Papierschnittarbeit an der Wand bezeichnenderweise, aus dem Lateinischen übersetzt so viel wie: „Ich werde verwandelt werden“ – jenes Zauberwort aus dem Märchen Kalif Storch von Wilhelm Hauff.
Derlei Verwandlungen fängt Mandernach nicht zuletzt auch in seinen bildnerischen Techniken ein. Mischt er im zentralen Raum Scherenschnitt und Pop Art, Trickfilm und die Schattenwelt, die Platon in der Antike beschrieben hat, so lässt er in einer anderen Werkreihe durch Enkaustik Farben und Motive nebelhaft verschwinden bzw. aus dem Nichts auftauchen: Farbe, durch heißes Wachs auf Papier gebracht. Das Resultat ist eine kaum greifbare Bildwelt – und die Titel tragen zur Verwirrung noch bei. „CROWN“ steht auf einem Bild; das könnte Zitat aus der Reklamewelt sein, doch die Krone im Zentrum des Bildes kann auch an die Dornenkrone Christi erinnern.
Jörg Mandernach. Selbstbildnis als Amy Winehouse. Foto: U. Schäfer-Zerbst
Was ist was? Das ist die Frage, die Mandernach mit seinen Arbeiten aufwirft. Und er nimmt sich selbst von dieser philosophischen Hinterfragung aller Dinge nicht aus. So hat er eine Serie von Selbstbildnissen gemalt, freilich nicht Bilder, die Ähnlichkeit mit seinem Antlitz aufweisen, sondern eher Darstellung dessen sein könnten, womit er sich identifiziert. So sieht er sich als Romy Schneider, als Amy Winehouse, aber auch als Fenster mit Blick ins Freie oder als Sprechblase.
Freilich neigt er dabei nicht selten dazu, den Betrachter zu überfordern. Wer alle Andeutungen auch nur ansatzweise erfassen will, sollte bewandert sein in der Popmusik, und selbst da ist nicht sicher, ob jeder Neil Diamond erkennt oder Syd Barrett. Hinzu kommt die Welt des Kinos. Romy Schneider mag man da noch als Allgemeinwissen ansehen, aber auch Hedy Lamarr, den Hollywoodstar der 30er Jahre? Oder Sharon Tate, die heute wohl weniger durch ihre mimischen Qualitäten bekannt ist als durch ihren gewaltsamen Tod – wenn überhaupt noch. Selbst die Welt der klassischen Musik findet sich mit dem genialen, exzentrischen Pianisten Glenn Gould.
Eines aber bleibt als Erkenntnis nach dem Besuch dieser Ausstellung haften: Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick erscheint, alles ist flüchtig, alles vergänglich – philosophische Gedanken in Bildinhalte und bildnerische Techniken verpackt. Man muss nur lange genug rätseln und entziffern und ist selbst dann nicht sicher, was man sieht. „What you see isn’t what you get“ – was man sieht, ist eben nie das, was man schließlich auch in Händen halten kann. Man weiß eigentlich nur, dass man nichts weiß!
„Jörg Mandernach – ‚Cequi transforme la nuit en lumière?‘“, Städtische Galerie Tuttlingen bis 9.7.2023