Papier sei geduldig, heißt es, weil sich auf Papier mühelos so ziemlich alles leicht schreiben lässt. Es ist daher möglichst neutral in der Oberfläche – aber auch ein wenig langweilig, weil gleichförmig. Dass es ursprünglich mühsam geschöpft wurde, dass es rund dreitausend verschiedene Sorten gibt und von Künstlern heute immer häufiger als Grundmaterial für ihre Arbeit bevorzugt wird, gerät dabei in den Hintergrund. Eine Ausstellung im Museum Ritter in Waldenbuch gibt Anlass, das Material neu zu bewerten. Hier ist – fast – alles aus Papier.
Was für ein Auftakt! Man verlässt den Aufzug, betritt die Ausstellung – und ist konfrontiert mit einer überwältigenden blauen Wand. Es ist das Grosse Blau von Hans Peter Reuter, eine wahre raffiniert genau berechnete Eruption aus Würfeln – kleinen wie großen: Das alles scheint in nächster Sekunde explodieren zu wollen und hält doch fest, ein Beispiel für die Synthese von Fragilität und Haltbarkeit, somit also eine Definition dessen, was Papier sein kann.
Dass Papier zudem leicht ist und mühelos in der Luft schweben kann, demonstriert Esther Stocker mit ihren Paper Planets, geknautschten Papierballons.
Rechte Winkel dominieren in der Ausstellung, ein Blatt Papier ist eben rechtwinklig. József Zalavári hat sich ganz darauf beschränkt und das gemacht, was ein Graphiker mit einem Blatt Papier tut: Er hat mit Tusche einen Strich darauf gezeichnet. Doch dann hat er die Fläche in der Mitte durchgeschnitten und die Hälften leicht versetzt zusammengeschoben, und siehe da: Die Linie beginnt, ein eigenartiges Leben zu führen, und das Blatt Papier ist alles andere als einfach nur glatt.
Dieses Spiel mit der glatten Fläche scheint so manche Künstler fasziniert zu haben. Am einfachsten ist es, wenn man ein Papier als Basis für eine Collage verwendet. Wenn man freilich wie Max Huber darauf nur schlichte farbige geometrische Gebilde klebt, dann ist der Unterschied zu einem einfach bedruckten Papier nicht sonderlich groß. Es scheint nur aus einem Blatt zu bestehen. Ähnlich ging Georg Karl Pfahler vor. Nur kombinierte er Collage mit gemalter Farbe – und erzielte ein spannendes Abenteuer für das Auge, wenn man mit dem Blick zwischen beiden Kunstformen hin- und herwandert.
Wie sehr eine Collage, in diesem Fall auf eine Fläche geklebte Papiere, sich von einem gemalten Bild unterscheiden kann, machte 1956 Adolf Fleischmann vor. Auf den ersten Blick wirkt seine Collage von 1956 wie eines seiner Ölgemälde, doch deren strenge Struktur aus farbigen Streifen wirkt in der Collage ungewöhnlich lebendig. Vor allem geht ein solches Kunstwerk über die reine Zweidimensionalität eines Papierblatts hinaus. Auch das ist ein Phänomen, das so manche Künstler reizte. René Acht kombinierte ein schwarzes Quadrat mit zwei leicht versetzten Umrisslinien von Quadraten. Man meint, das Bild sei in Bewegung, und vor allem, die angedeuteten Quadrate lägen hintereinander. Es ist aber ein reines Spiel mit der Räumlichkeit.
Und bei Katja Strunz scheint sich aus lauter Papierflächen gar eine Art Spirale zu ergeben, die man in ständiger Bewegung wähnt.
Ähnlich lebendig ist eine Arbeit von Doris Erbacher. Sie hat farbige quadratische Rahmen zu einer Collage kombiniert und so gewissermaßen eine Bilderwand ohne Bilder kreiert – ganz aus Papier, aus ausgeschnittenen Papierflächen. Auch diese alte Kunst, der Scherenschnitt, ist höchst aktuell und sehr modern. Violetta Elisa Seliger hat aus Papierblättern mehrere Raster geschnitten und leicht versetzt hintereinander platziert – ein Gewirr aus Gittern entstand, nur aus Papier, aber scheinbar undurchdringlich. Fiene Scharp hat Ansichtskarten gelocht – freilich so, dass die Sehenswürdigkeiten auf dem Foto der Karte fast noch deutlicher hervortreten als auf dem unversehrten Foto.
Ganz unversehrt hat Peter Weber seine dünnen Kartons belassen. Er hat sie nur raffiniert gefaltet – und so aus den glatten Flächen zumindest Reliefs geschaffen, wenn nicht gar regelrechte Skulpturen – wie auch Lore Bert, die in einer Fleißarbeit aus zahllosen Seidenpapierröllchen eine ornamentale Lotusblüte geformt hat.
Überhaupt scheint das Papier zur Verarbeitung herauszufordern. So wirkt eine Arbeit von Heinz Mack wie ein Rechteck aus grobem Leinen; den Eindruck dieser Materialstruktur hat Mack jedoch einzig mit Pastellkreide auf Papier hervorgerufen – einer reinen Zeichnung also. Jiří Hilmar dagegen überführte das Papier in eine echte Skulptur. Er klebte gefaltete Papiere so raffiniert auf eine Fläche, dass sie sich zu bewegen scheinen, wenn man an ihnen vorübergeht, und dabei Farbnuancen annehmen, auch wenn es nur weiße Papiere auf weißem Grund sind: Weiss auf Weiss.
Manche Künstler scheinen dagegen den Titel der Ausstellung schon gekannt zu haben: Made of Paper. Ihre Werke bestehen wirklich schlicht aus Papier. Im Fall von Fabian Gatermann aus lauter Sonderbriefmarken mit Köpfen berühmter Frauen.
Und Thomas Rentmeister hat einfach 15er-Packs von Tempotaschentüchern zu einem riesigen Quader gestapelt: mehrere Tausend solche Packungen – ein Witz auf den ersten Blick, ein Spiel mit kunstgeschichtlichen Strömungen wie der Minimal Art oder der Konkreten Kunst bei genauerem Nachdenken – und das alles wirklich nur aus Papier, made of paper, das zwar geduldig sein mag, wie man gerne sagt, das aber in seinem Potential offenbar unerschöpflich ist, wie diese Ausstellung zeigt.
„Made of Paper“, Museum Ritter, Waldenbuch, bis 7.4.2024