Sie seien Anfang und Ende aller Naturlandschaften, meinte vor hundertfünfzig Jahren der englische Kunstkritiker John Ruskin über die Berge, und Gebirge seien auf erhabene Weise von reizvollem Schrecken schon fünfzig Jahre davor sein Landsmann John Dennis. William Turner hat im 19. Jahrhundert mit seinen Alpenbildern dieses schrecklich Erhabene auf die Leinwand gebannt, zur selben Zeit hat sein deutscher Kollege Caspar David Friedrich im Riesengebirge das Geheimnis- und Schreckenvolle der Bergwelt entdeckt. Dass der Berg auch Künstler von heute fasziniert, zeigt eine Ausstellung in der Galerie Schlichtenmaier: „Der Berg ruft“.
Was für ein Gebirgsmassiv! Man meint, sogleich zu erkennen, um welchen Gipfel es sich hier handelt – den Großglockner, das Matterhorn oder den Mont Blanc. Als Ralph Fleck seine Bergbilder malte, mag er den einen oder anderen Gipfel sogar vor seinem geistigen Auge gehabt haben, aber eben nur vor seinem geistigen. Fleck porträtiert nicht. Wenn er sich Motive wählt – eine Rose, ein Stück Fleisch oder eben einen Alpengipfel – ist es für ihn nur Anlass, mit Pinsel und Farbe auf Leinwand umzugehen. Zugleich aber spielt er mit dem Phänomen Distanz. Aus der Nähe betrachtet sieht man, dass alles nur Malerei ist, der Nebelvorhang unter dem Berggipfel – nichts als gemalte weißlich-graue Fläche. Aus der Ferne betrachtet dagegen meint man ein fast realistisch porträtiertes Abbild vor sich zu haben, fast ein Foto.
Doch was heißt schon Foto? Tina Trumpp hat einen berühmten Berg fotografiert, den Mont Saint Michel. Vor dem Betrachter, der im Wattenmeer davor steht, erhebt er sich riesengroß. Doch Tina Trumpp hat ihn von oben fotografiert, und siehe da, man erkennt ihn kaum. Fotografische Wiedergabe ist noch lange nicht identisch mit dem Original, sie ist – nur – ein Bild davon.
Wie sehr Bild, zeigen die Berge von Sven Drühl. Auch sie, wie bei Fleck, auf den ersten Blick realistisch porträtiert, entstanden aber sind sie am Computer, und gemalt, von der Seite sieht man es, mit Farbe und Lack auf Leinwand. Wie bei Ralph Fleck entpuppt sich das Bergporträt als Kunstprodukt. Nichts als Malerei.
Das freilich kann ein Künstler auch betonen. Bei Lambert Maria Wintersbergers Bild ist der Titel Fels mit Pilz vielleicht erst im Nachhinein entstanden, als der Maler in der mit dickem Pinselstrich vehement auf die Leinwand gebrachten Farbe eben eine Art Bergmassiv erkannte. Aber es ist nichts als reine Malerei.
Wie wenig konkrete Ähnlichkeit mit der Realität ein Maler benötigt, zeigt ein Bild von Hans Schreiner. Er hat streng genommen nur einige Farbflecken übereinander gemalt, und doch meint man, einen aus locker aufeinander liegenden Steinen gebildeten Berg vor Augen zu haben.
Wirken die Bergbilder von Fleck oder Drühl erhaben, majestätisch, führt uns Jan Gemeinhardt an die menschliche Realität in der Beziehung zum Berg heran. Er rückt ihm dicht auf den Leib. Es ist, wie bei Fleck, reine Malerei, doch deutlich meint man rätselhafte Höhlen, undurchdringliche Gesteinsmassen vor sich zu haben, wie in der Realität auch, wenn man am Fuß eines riesigen Gebirgsmassivs erkennen muss, wie klein der Mensch doch ist. Wie klein und unbedeutend, zeigt ein Bild von Manfred Henninger, auf dem sich eine Schar Menschlein ängstlich an eine riesige Felswand drückt.
Nah am Fuß eines großen Bergs befindet man sich auch vor den Bildern von Volker Lehnert. Er zeigt fast zeichnerisch einzelne Steinbrocken, Geröll, was sich am Fuß eines Bergs sammelt. Nichts von Erhabenheit, nur ein mikroskopischer Blick zu Boden. Und da kann man wahre Zauberwelten entdecken. Vom Porträt eines Bergs ist man vor diesen Bildern weit entfernt.
Erst recht bei Anna Bittersohl. Sie mag zwar als Anregung für ihre Malerei auch Berge oder Felshöhlen vor Augen gehabt haben, doch auf der Leinwand entstanden rein abstrakte Farbsymphonien, in denen man Einbuchtungen, steile Hänge aus großer Höhe erkennen mag, aber nicht muss. hinter diesem kann ein solches Bild dann heißen oder einfach nur Becken.
Das ist reine Malerei, vor der man Assoziationen an Phänomene wie Berg und Tal haben kann. Reine Malerei sind auch die Bilder von Xiangwei Zhu. Man erkennt auf seinen Bildern durchaus noch Elemente wie Bergketten – aber sie lösen sich auf in ein Farbgewölk, das nichts mehr mit der Anmutung eines realen Wolkennebels zu tun hat wie bei Ralph Fleck, manchmal auch in einen See, der am Fuß eines Bergs liegen mag. Berg und See, Stein und Wasser – zwei konträre Phänomene der Natur verschmelzen auf seinen Bildern ineins, Materien, wie sie unterschiedlicher kaum sein können, werden bei ihm durch den bloßen Umgang mit Pinsel und Farbe auf der Leinwand zur Synthese gebracht.
Der Berg mag auch die Maler rufen, wie der Titel der Ausstellung nahelegt. Aber die Maler machen aus dem Berg, was sie mit Farbe vermögen – sie verwandeln das bekannte Motiv in reine Kunst -, selbst wenn sie dafür einen Fotoapparat verwenden wie Tina Trumpp.
„Der Berg ruft. Gebirge, Fels, Geröll in der Malerei“, Galerie Schlichtenmaier, Schloss Dätzingen bis 16.9.2023