Er trat früh aus der Kirche aus, fühlte sich stets als linksorientierter engagierter politischer Zeitgenosse, war Mitglied der Kommunistischen Partei: Der Holzschneider HAP Grieshaber war alles andere als ein Mann der Kirche, welcher Konfession auch immer, wiewohl er durch sein pietistisch geprägtes Elternhaus die Kirche intensiv kennengelernt hatte, vielleicht auch gerade deswegen. Dennoch lässt sich dieser Künstler, der sich mit seinen Holzschnitten für den Erhalt der Natur und gegen Diktaturen und faschistische Regimes eingesetzt hat, als großer religiöser Künstler bezeichnen, zumindest nach der Zahl religiöser Bildthemen in seinem Oeuvre zu urteilen. Eine Ausstellung im Reutlinger Spendhaus stellt sie vor – nicht etwa unter dem Titel: „Die Bibel bei Grieshaber“, sondern allgemein „Menschheitsbilder eines Ketzers“, und das mit gutem Grund.
Es ist eindeutig ein christliches Bild, das HAP Grieshaber mitten im Zweiten Weltkrieg schuf: die Kreuzigung, und unmissverständlich wird auf Christus Bezug genommen mit der Inschrift INRI. Wir sehen auch die ans Kreuz genagelten Hände und Füße, doch mehr ist von Christus nicht zu sehen – weder der Körper, den ein Soldat mit der Lanze verletzt hat, noch der Kopf, in dessen Gesicht Künstler Jahrhunderte hindurch mit dem Ausdruck tiefsten Leidens gestaltet haben. Christus, der Gekreuzigte, fehlt, und somit bekommt das Bild neben den religiösen Assoziationen, die es durchaus auslöst, eine ganz andere Konnotation: Es geht um Zerstörung, um Leid ganz allgemein; Grieshaber schuf ein Bild zu der Zeit, die er gerade durchlebte. Aus dem religiösen Motiv ist tatsächlich ein Menschheitsbild geworden, wie der Ausstellungstitel verheißt. Und dasselbe Phänomen findet sich in den für einen „Ketzer“ durchaus zahlreichen Passionszyklen, in denen Grieshaber die Geschichte des Leidenswegs Christi Bild werden lässt. In seiner umfangreichen Passion, die er in den 30er Jahren schuf, sucht man die Person Jesu vergebens. Beim Einzug in Jerusalem sehen wir nur die wartende Menge, wesentliche Szenen zahlreicher Passionszyklen wie der Kuss, mit dem Judas Christus verrät, und das Leidensgesicht des Ecce homo fehlen völlig, und bei der Kreuzigung stehen abermals die Zeugen der Szene im Zentrum, vom Gekreuzigten sind nur die Füße zu sehen. Eine Passion ohne die für die Passion zentralen Elemente, also die Passion eines „Ketzers“? Keineswegs. Grieshaber kannte die Bibel von Kindesbeinen an sehr genau, wie er immer wieder betonte. Und so kann man, angeleitet durch seine Darstellungen, angeregt werden zu religiös tiefschürfenden Betrachtungen. Wenn Grieshaber vom Gekreuzigten nur die Füße zeigt, schließt er die Kreuzigung nahtlos an die ikonographisch traditionsreiche Darstellung der Himmelfahrt an, die ja erst durch die Kreuzigung möglich wurde. Auch so manche Szenen, die im eigentlichen Passionsgeschehen in der Regel keinen Platz finden, machen Sinn. So gestaltet Grieshaber die wesentlichen Lebensstationen des Erlösers von der Geburt über die Flucht bis zum Garten Gethsemane, greift sogar auf die Zeit vor seiner Geburt zurück, indem er auf einem Blatt Maria mit Elisabeth porträtiert, die Maria gleich nach der Verkündigung ihrer Schwangerschaft durch den Engel aufsucht. Und auch Adam und Eva machen in diesem Zusammenhang durchaus Sinn, zumal Grieshaber sie in dem Augenblick zeigt, da sie vor dem Apfelbaum stehen, hinter dem bereits die Schlange als große Versucherin hervorlugt. Mit dem Sündenfall beginnt letztlich die Menschheitsgeschichte, die zur Erlösungstat Christi führte. Grieshabers Passionszyklus wirkt wie ein Zyklus zur ganzen Bibel, lässt sich jedoch präzise theo-logisch als Passionsdarstellung erklären. Und der Zyklus ist ein Verweis auf die Nazidiktatur, gegen die er ihn sicherlich intendiert hatte: Gott hat die Menschen nicht verlassen, aber er zeigt sich in einer solchen Zeit nicht.
Dasselbe gilt für Grieshabers übrige Passionszyklen, die alle politisch motiviert waren, etwa seine Passion der Versöhnung, mit der er den Beginn der Aussöhnung zwischen Deutschland und Polen begleitete.
Stets verband Grieshaber mit religiösen Motiven einen Kommentar auf sein Hier und Jetzt. Sein Holzschnitt Pax entstand zum Tod von Papst Johannes XXIII., mit seinem Zyklus zur Josefslegende lieferte er einen Kommentar zur erhofften Aussöhnung zwischen Israel und Ägypten.
Und als er für den Bundestag in Bonn eine Arbeit gestalten sollte, wünschte er sich als Präsentationsraum den Sitzungssaal des Verteidigungsausschusses und schuf sein großes Weltgericht, auch hier ohne den als Richter thronenden Christus. Stattdessen bildet das Bild einer Atombombenexplosion den Mittelteil des Triptychons, das den Untertitel Inferno des Krieges trägt, die beiden Seitentafeln zeigen Adam und Eva wird, durch die das Leid in die Welt kam.
So war Grieshaber ein Künstler, der in der Tradition der christlichen Religion stand, aber mit den Augen eines Außenseiters auf die Kirche blickte. Daher fand er zu ganz eigenen Bildgestaltungen, die gleichwohl stets eines sind: religiös begründet und theologisch anregend.
„Die großen Menschheitsbilder eines Ketzers. Christliche Themen im Werk HAP Grieshabers“, Städtisches Kunstmuseum Spendhaus, Reutlingen, bis 8.4.2018. Katalog 120 Seiten, 22 Euro