Auf den ersten Blick erkennbar sollte sie sein, leicht verständlich, der Alltagswelt verhaftet – die Pop Art revolutionierte den Kunstbegriff: Abkehr von allem Elitären, Verherrlichung des Alltags, vor allem aber eine Kunst für alle. Kein Wunder, dass die Pop-Künstler vor allem die Druckgraphik schätzten, die davor in den USA kaum eine Rolle gespielt hatte. Mit ihr ließ sich Kunst vervielfältigen, einem großen Publikum zugänglich und vor allem erschwinglich machen. Eine Ausstellung der Staatsgalerie Stuttgart zeigt, dass sich dieser „Great Graphic Boom“ beileibe nicht auf diese Kunstströmung beschränkte.
„Art goes trivial“ war ein Movens der Pop Art. Andy Warhol machte Suppendosen kunstsalonfähig, sein Kollege Roy Lichtenstein setzte dem Comic ein Denkmal. In riesiger Vergrößerung machte er die Pixel der gedruckten Massenware zum Ausdruckselement, aber er beließ es nicht bei einer Trivialisierung. Seine Offsetlithographie Crying Girl verstärkt durch die Vergrößerung und den Bildausschnitt die Dramatik des Themas, die Punkte aber konterkarieren die Intensität: Nüchterne Druckästhetik steht in kreativem Kontrast zur geradezu kitschigen Gefühlsextase.
Druckgraphik ermöglicht Vervielfältigung. Es war daher nur folgerichtig, dass Andy Warhol sich dieses Mediums, vor allem des Siebdrucks bediente, denn sein Prinzip war das der Serialität. Aber auch er war ungleich raffinierter, als der erste Blick verrät. Seine zehnteilige Marilyn Monroe gewidmete Serie zeigt auf jedem Bild leichte Veränderungen – ein Spiel mit der Erwartung der Wiederholung und der Unikatästhetik früherer Jahrhunderte.
Vor allem die Lithographie reizte die Künstler, denn sie ist ein Druckverfahren – dient also der Vervielfältigung und ist zugleich der traditionellen Originalästhetik verpflichtet, weil die Steinplatte vor jedem Druck neu eingefärbt bzw. bemalt werden muss. Auch hier überraschten die Pop-Künstler durch raffinierte Experimente und Neuerungen. John Baldessari brachte gern Fotos in seine Arbeiten ein und schuf eindringliche politische Statements, wenn er etwa auf einer Graphik eine Szene aus einem Historienfilm aus Hollywood mit Flüchtlingsbooten kombiniert – zweimal Amerika!
Der Pop Art ist im Graphikkabinett eine zusätzliche Ausstellung gewidmet, in der unter anderem zu sehen ist, wie politisch diese Künstler waren, wenn Robert Kulicke beispielsweise Dum-Dum-Geschosse wie ein Rosenbukett gestaltet.
Die Lithographie hatte es bezeichnenderweise den Künstlern angetan, die nicht den Alltag verherrlichen wollten, sondern eine abstrakte Handschrift pflegten wie Sam Francis, denn auf dem Stein konnte er letztlich genauso arbeiten wie auf der Leinwand mit dem Vorteil einer größeren Auflage; somit waren auch solche Künstler an dem interessiert, was John Baldessari einmal forderte: Jeder Künstler solle eine preiswerte Linie in seinem Oeuvre haben.
Sam Francis ist übrigens ein Beispiel für die frühe Hinwendung der Staatsgalerie Stuttgart zur aktuellen amerikanischen Kunst. Erwin Petermann, damals Leiter der
Graphischen Sammlung, kaufte bereits 1961 erste amerikanische Druckgraphiken, kurz nach ihrer Entstehung, und realisierte als Direktor der Staatsgalerie 1968 die erste Ausstellung amerikanischer Druckgraphik aus eigener Sammlung in Deutschland. Er hatte auch dafür gesorgt, dass Gemälde von Francis in die Sammlung kamen, sodass man jetzt an einem Gemälde in der ständigen Ausstellung nachvollziehen kann, wie treu sich Francis in Malerei und Druckgraphik blieb.
Treu blieb sich auch Barnett Newman, als er sich – nach anfänglichem Zögern – der Lithographie zuwandte und Graphiken in seinem typischen Stil schuf, Bilder, die reduziert auf einzelne Farbflächen oder wenige Streifen waren. Doch was für ein Unterschied! Das Overall, das er auf seinen Gemälden pflegte – die Bilder wirken wie Meditationsräume -, ließ sich in der Druckgraphik nicht durchhalten, da hier stets Ränder auf den Papieren bleiben. Newman experimentierte mit diesem Phänomen und zeigte abermals, wie kreativ diese Künstler mit dem alten Medium Druckgraphik umgingen.
So führt die Ausstellung ein in ein aufregendes Kapitel neuer amerikanischer Kunst und ist zugleich eine Hommage an die gewaltigen Bestände der Graphischen Sammlung der Staatsgalerie, die faszinierende Themenausstellungen ohne jede Leihgabe ermöglichen, auch wenn in diesem Fall einige Arbeiten aus dem norwegischen Nationalmuseum aus Oslo stammen, mit dem zusammen diese Ausstellung konzipiert wurde.
The Great Graphic Boom. Amerikanische Kunst 1960 bis 1990“. Staatsgalerie Stuttgart bis 5.11.2017. Katalog 256 Seiten 24,90 Euro
Sam Francis. The White Line, 1960 © Sam Francis Foundation. VG Bild-Kunst, Bonn 2017
Roy Lichtenstein. Crying Girl, 1963 © Estate of Roy Lichtenstein. VG Bild-Kunst, Bonn 2017
Barnett Newman. Canto VII, 1963 © Barnett Newman Foundation. VG Bild-Kunst, Bonn 2017