Hatten Künstler wie Dürer oder Cranach dem Holzschnitt zu künstlerischer Blüte verholfen, diente er im Bauernkrieg vor allem als politisches Informations- und Agitationsmedium. Danach geriet er eher ins Hintertreffen, bis die Expressionisten seine Schwarz-Weiß-Kontraste und seine formale Konzentration auf das Essenzielle entdeckten. Der Belgier Frans Masereel griff beide Traditionen auf und wurde zum Erneuerer dieser Kunst – ein viel zu geringes Lob, wie jetzt eine große Retrospektive im Kunstmuseum Reutlingen zeigt.
Dunkle Gedanken nannte Frans Masereel 1929 diesen Holzschnitt. Und schon vom Titel her ist dieses Werk charakteristisch für diesen 1889 in Belgien geborenen Künstler, denn wenn man sich sein künstlerisches Schaffen betrachtet, das jetzt in einer großen Retrospektive im Kunstmuseum Reutlingen präsentiert wird, dann scheinen es vor allem düstere Gedanken gewesen zu sein, die ihn geprägt haben. Selbst Bilderserien mit eher optimistischem Beiklang wie Liebesgeschichten zwischen Mann und Frau enden in der Regel in Gewalt und Verzweiflung. Ein Zyklus über die Passion des Menschen ist geprägt von Szenen harter Arbeit, Verspottung durch die Welt und Verhaftung und Gefängnis. Und in seinem autobiographischen Stundenbuch finden sich zwar auch Bilder von der Rettung einer Ertrinkenden, aber eben auch von Hunger in Afrika, von Vergewaltigung und Tod.
Vor allem der Tod zieht sich wie ein roter Faden durch sein Schaffen, gewiss Folge der Erfahrung des 1. Weltkriegs. Masereel war Kriegsdienstverweigerer, durfte deshalb jahrelang nicht in seine belgische Heimat und engagierte sich in Genf im Kreis von Pazifisten rund um den Schriftsteller Romain Rolland. Der dortigen Zeitung La Feuille steuerte er kleine Grafiken bei, mit denen er gegen den Krieg propagierte, aber eine solche Formulierung wäre für diesen Künstler zu konkret. Seine künstlerischen Aussagen sind allgemeiner. So schuf er zwischen 1916 und 1917 vier Zyklen gegen den Krieg, die aber nicht, wie der Antikriegszyklus von Otto Dix, die Leiden auf dem Schlachtfeld porträtieren, sondern sich mit dem Tod generell auseinandersetzen. In seinem Totentanz sehen wir Tote im Dialog, verzweifelte Blicke auf einen Toten im Grab, explodierende Munition im Hintergrund. In einem anderen Zyklus sprechen die Toten zu uns, und als er sich dem in der christlichen Heilsgeschichte so freudigen Begriff „Auferstehung“ widmete, wurde eine „höllische Auferstehung“ daraus.
All diese Holzschnitte bilden jeweils ganze Bildzyklen. Masereel befreite den Holzschnitt von seinem Einzelbilddasein und griff damit eine andere Tradition dieser Kunstgattung auf, die der Illustration von Büchern.
Er schuf Illustrationen zum Ulenspiegel des Belgiers Charles de Coster, zu Kasimir Edschmids Rede an einen Dichter. Vor allem aber schuf er ein ganz eigenes Medium – das Buch in Bildern. Eine „Liebesgeschichte“ zwischen Mann und Frau heißt bezeichnenderweise Histoire sans paroles
. Diese Holzschnittbücher erzählen ihre Geschichten in Einzelbildern, die jeweils eine symbolische Szene enthalten, die „Erzählungen“ springen gewissermaßen wie in einer filmischen Schnitttechnik von „Einstellung“ zu „Einstellung“; die Ästhetik des Stummfilms ist hier eine Liaison mit dem Holzschnitt eingegangen, was sich nicht zuletzt auch in Masereels Holzschnittstil niederschlug. Masereel interessierten nicht die feinen filigranen Linien der Holzmaserung, der Holzschnitt war für ihn eine Kunst der Flächen – schwarz gegen weiß. Wie herausgemeißelt wirken seine Figuren, meist eckig, was dem Ausdruck von Elend und Not ideal entsprach. So sind seine Holzschnitte oft zusammengesetzt aus relativ großen schwarzen und weißen Flächen.
Wenn er kleinteiliger wurde, dann drückte er Hektik aus wie in seinem Zyklus zur Großstadt, von dem Stefan Zweig rühmend schrieb, er sei das beste Stadtporträt, weil er nicht eine Stadt darstelle, sondern die Großstadt schlechthin.
Und das macht seine Kunst in jeder Beziehung einzigartig: Masereel ging den Dingen immer auf den Grund, arbeitete das Wesentliche heraus, weshalb der Holzschnitt für ihn das kongeniale Medium war, muss doch der Holzschneider im Unterschied zum Zeichner oder Radierer auf feine Lineaturen verzichten und das Wesentliche der Bildformen herausarbeiten, die schwere Arbeit im Hafen beispielsweise zwischen riesigen Kränen und Schiffsmasten.
So gelang ihm stets eine neue Wahrheit. Selbst das so grausige Motiv des hl. Sebastian, der in der christlichen Ikonographie von Pfeilen durchbohrt stirbt, steigerte er zu einer zeitgenössischen Bildvision. Sein Sebastian wird von Düsenjägern durchbohrt – dunkle Gedanken eines Humanisten in einem kriegslüsternen Jahrhundert, der eben die Holzschnittkunst nicht nur erneuerte, sondern ihr ganz neue Dimensionen eröffnete.
„Frans Masereel. Es gibt keine schönere Farbe als Schwarz“, Kunstmuseum Reutlingen bis 10.4.2022. Katalog 127 Seiten