Er zählte zu den Hauptvertretern des Symbolismus, der 1857 geborene Max Klinger. Kein Wunder, dass er Arnold Böcklin bewunderte, dem seine Bilder an geheimnisvoller Aura und Rätselhaftigkeit oft nicht nachstanden. Kunstfreunde versenkten sich oft eine halbe Stunde in ein einziges seiner Gemälde, um es zu enträtseln, und so unterschiedliche Künstler wie Käthe Kollwitz, Giorgio de Chirico und Edvard Munch bekannten, von ihm beeinflusst zu sein, wie einige Zitate in einer Ausstellung in der Waiblinger Galerie Stihl belegen, die sich Klingers druckgrafischen Bilderzyklen widmet.
Dass Edvard Munch sich zu diesen Grafiken hingezogen fühlte, versteht man. Klinger war ein Meister der Dunkelheit, er hatte sich eingehend mit dem Künstler auseinandergesetzt, dessen Schwarz in der Radierung legendär war, Rembrandt. Und die Dunkelheit passte zu seinen Themen. Gleich mehrere seiner Zyklen widmen sich dem Tod – mal in Form eines Totentanzes, der aufzeigt, dass keine Gesellschaftsgruppe dagegen gefeit ist, mal in philosophischer Hinsicht in der Nachfolge eines Arthur Schopenhauer, der im Tod die Erlösung von lebenslangem Leiden sah, aber auch in gesellschaftskritischer Absicht, wenn er eine arme Familie porträtiert: Die Mutter schaut mit dem Kind sehnsuchtsvoll durch ein kleines Fenster in die helle Außenwelt, derweil im dunklen Winkel des Zimmers der personifizierte Tod im Lehnstuhl sitzt.
Klingers Sozialkritik hob vor allem das Leiden der Frauen in der Gesellschaft hervor. Mehrere Zyklen widmen sich der sogenannten „gefallenen“ Frau, die durch eine frühe Verliebtheit schwanger wird und in der Gosse endet. Einer dieser Zyklen heißt lapidar: Ein Leben, was suggeriert, dass das, was hier geschildert wird, keine Ausnahme ist. So beginnt der Zyklus denn auch gleich symbolisch mit Eva, gewissermaßen dem Urbild der Frau, und dem Sündenfall. Hier ist die Vertreibung aus dem Paradies bereits vollzogen, Eva und Adam sitzen deprimiert an einem Tisch und Eva greift mit der bloßen Hand in die Flammen, holt, so meinte Klinger, „die Kastanien aus dem Feuer“, will sagen, übernimmt die Verantwortung für die Tat – und diese Tat besteht, das zeigt ein anderer eigens Eva gewidmeter Zyklus, in der Bewusstwerdung der eigenen Sexualität, denn da hält die Schlange der nackten Frau nicht einen Apfel entgegen, sondern einen Spiegel.
Sexualität aber ist kein bewusster Akt des Menschen, sie überfällt ihn, zumal in der Pubertät, so die Aussage von Klingers Zyklus Ein Leben, vor allem im Schlaf, der nicht nur laut Goya, den Klinger neben Rembrandt sehr bewunderte, Ungeheuer hervorbringt, sondern auch erotische Traumbilder. Sie führen in diesem Fall im Geschwindmarsch in die Gosse. Wie im Zeitraffer führt der Zyklus die fast zwangsläufige gesellschaftliche Abwärtsleiter vor: Blatt drei des Zyklus zeigt die erotischen Träume, Blatt vier die Verführung, Blatt fünf die Verlassenheit der Frau, Blatt sechs die Prostitution. Das alles findet in oft nachtschwarzen Szenerien statt, Klinger war ein Meister der Aquatintaradierung, in der solche Schwarztöne möglich sind. Kein Wunder, dass durch ihn einer Käthe Kollwitz die Druckgrafik nahegebracht wurde, in der sie später eine Meisterschaft entwickelte.
Mit solchen Bildern bleibt Klinger jedoch nie auf der rein realistischen Ebene stehen. Überall lauern Gestalten, die symbolisch zu deuten sind. Die junge Frau zeigt er bei ihren erotischen Träumen in derselben Pose wie im ersten Blatt Eva vor ihrem Sündenfall.
Bei der Vereinigung mit dem jungen Mann reiten die Liebenden im Meer auf Fischen, Symbolen der Wollust. Die Verlassenheit drückt sich im Gang am Meeresufer aus, die Wolken ballen sich darüber zur Faust. Derlei Detailhinweise kann man den vorzüglichen Texten entnehmen, die jedes Bild inhaltlich und stilistisch erläutern und die Bezüge zu den Bildungshintergründen herstellen, schließlich war Klinger einer der belesensten Künstler seiner Zeit und wurde als „Bildungsgrübler“ verspottet.
Aber viele seiner Arbeiten erschließen sich auch dem bloß genauen Hinsehen. Und das Leiden an der Liebe bleibt nicht den Frauen vorbehalten. Im Zyklus Der Handschuh ist es ein junger Man, der das Kleidungsstück, das eine Frau – absichtlich oder versehentlich? – auf der Eisbahn fallen gelassen hat, aufhebt und darüber in einen Liebeswahn verfällt. Hochgradig psychologisch gelingt es Klinger, diesen Wahn allein durch das Ersatzobjekt, den Handschuh, zu analysieren, der in Traumvisionen mal übergroße Dimensionen annimmt, mal von mythischen Gestalten zu immer neuen Verklärungen geführt wird. Immerhin: in diesem Fall winkt dem jungen Mann Erlösung. Amor ist offenbar müde geworden, legt Pfeil und Bogen ab, und Rosen ranken sich um die Szene.
Denn Klinger hatte neben all seinem Hang zu symbolistischen düsteren Visionen auch Humor. Ein Blatt zeigt auf einem Schilfrohr schwingend eine ätherisch leichte Elfe, die mit einem Grashalm versucht, aus luftiger Höhe einen auf dem Boden liegenden Bären zu kitzeln. Aus Ovids Metamorphosen nahm er sich die Figuren vor, denen ein tödliches Schicksal beschieden ist, und „rettete“ sie. So endet die Geschichte um Pyramus und Thisbe nicht tragisch mit dem Tod des Liebespaares. Beide kommen mit dem Leben davon, auch wenn dem jungen Mann ein richtiges Happy End verwehrt bleibt. Thisbe ist auf den letzten Blättern des Zyklus verschwunden; vielleicht hat sie sich einem anderen in die Arme geworfen. Am Ende dieses Zyklus liefern sich der Dichter – Ovid – und der Künstler – Klinger – einen Zweikampf mit angemessenen Waffen: dem Schreibgriffel des antiken Dichters und der Radiernadel des Künstlers.
Dank der knappen, aber anschaulichen Texte ist der Besuch der Ausstellung ein Bildungsspaziergang durch die Assoziationswelt Max Klingers und dessen Radierkunst, die nicht zu Unrecht große nachfolgende Künstler inspirierte.
„Liebe, Traum und Tod. Max Klingers druckgrafische Folgen. Galerie Stihl, Waiblingen, bis 26.4.2020