Ein Paradigma ist ein Muster, eine Gesetzmäßigkeit, der das Handeln jedes Einzelnen folgen kann, der man sich aber auch widersetzen kann. So ging Beethoven von bestimmten Formen wie der Sonate oder dem Streichquartett aus, um sie dann im Lauf seiner Entwicklung zu modifizieren, gar zu zerstören. Auf dieser Erkenntnis beruht der neue Abend des Bayerischen Staatsballetts, weshalb er auch den Titel Paradigma bekam.
Bedroom Folk, Ensemble © W. Hösl
Und das Ballett, das Sharon Eyal 2015 für das Nederlands Dans Theater kreierte, reiht sich schon vom Titel her in dieses Denken ein: Bedroom Folk, das impliziert eine Gruppeneinheit, die Zugehörigkeit zu einer homogenen Masse. Acht Tänzerinnen und Tänzer stehen eng beieinander wie in einer Phalanx. Sie bewegen sich kaum, rucken nur ein wenig mit den Füßen nach links und nach rechts, heben die Schultern, neigen die Köpfe, zucken mit den Armen. Das ist weniger Tanz als vielmehr Ausdruck eines ängstlichen Festhaltens an einer Gemeinsamkeit. Man könnte daher den Titel mit „Schicksalsgenossen“ übersetzen. Das ist eine Choreographie über den Zwang zur Gruppenidentität, den Verlust an Individualität. Wesentlichen Anteil hieran hat die Musik von Ori Lichtik. Seine elektronischen Klänge sind eher Impulse, rhythmische Akzente in rascher Abfolge, manchmal kaum merklich variiert wie Minimal Music, die die Tänzer weniger zu Bewegungsabläufen animieren als zu Körperzuckungen. Da bleiben die Füße gern auch einmal still auf dem Boden stehen und nur die Arme, Schultern, Köpfe bewegen sich, meist ruckartig, dann greifen die Arme schlangengleich in den Raum aus, und alle Tänzer führen das streng synchron aus.
Doch dann bemerkt man, wie sich immer wieder jemand von dieser strengen Gruppeneinheit löst: Anfangs kaum merklich, werden die Bewegungen immer individueller – allerdings nie gänzlich anders. Stilistisch sind sie immer noch eingebunden in das Tun der anderen. Es ist eine bisweilen beklemmende Arbeit, vor allem, wenn am Ende eine Art Rattenfänger von Hameln die Gruppe mit sich zieht, ob ins Verderben oder eine neue Zukunft bleibt ungewiss. Denn bei aller Abstraktheit der Bewegungen schälen sich immer wieder Ansätze zu Situationen heraus. Mal meint man, einer Disco beizuwohnen, mal erkennt man eine Würgeattacke, sogar Anspielungen auf die Schwäne in Tschaikowskis Ballettklassiker sind erkennbar, aber stets nur in sekundenkurzen Andeutungen. Und der Impuls der Musik, der die Akteure zu ständiger Bewegung treibt, wirkt wie das alles bestimmende Muster. Das ist wirklich paradigmatisch, und wenn am Ende das Licht verlischt, die Musik aber weiter tönt, meint man fast zu sehen, wie die Körper sich auch weiter zu diesen Impulsen bewegen.
With a Chance of Rain, L. Summerscales, J. Zhang © Katja Lotter
Ganz anders dagegen das letzte Stück des Abends. Es ist eine Choreographie, die sich ganz auf die Musik einlässt. Liam Scarlett hat sich für sechs Préludes von Sergei Rachmaninow entschieden, sehr unterschiedliche Préludes, deren Atmosphäre er tänzerisch präzise nacherlebt hat. Selten geht Musik so direkt auf die musikalischen Vorgänge ein. Jede Bewegung, jeder Stimmungsumschwung wird in Gesten und Tanzbewegungen ausgedrückt, ohne jedoch eine bloße Wiederholung der Musik zu sein. Vor allem die Atmosphäre zeichnet Scarlett meisterhaft nach. Wirkt eines dieser Préludes klanglich, als wäre es von Chopin, bringt Scarlett eine geradezu klassische Tanzszene auf die Bühne, die an das 19. Jahrhundert gemahnt, ohne aber altmodisch zu sein. Zu den dramatischen drei Anfangsakkorden des cis-Moll-Préludes op. 3,2 betreten zwei Tänzer energiegeladen die Bühne, um dann, wenn die Musik sich introvertiert in leisen Klängen verliert, zu innigem Tanz miteinander zu finden.
Damit nicht genug. Aus dem auf den ersten Blick rein abstrakt wirkenden Tanzgeschehen entwickeln sich immer wieder kleine Szenen, ähnlich wie bei Eyal, aber konkreter ausgearbeitet. Da demonstriert ein Tänzer vor einer jungen Frau sein Können; sie aber wendet sich gelangweilt ab. Wird ein junger Man aufdringlich und fasst einer Frau an den Po, reagiert diese ablehnend und entsetzt. Das wird aber nie zur Handlung ausgespielt, sondern bleibt Andeutung, konkret genug, um vom Betrachter weitergesponnen zu werden.
Bleibt ein Wermutstropfen bei dieser so heiteren, hochmusikalischen Choreographie: der Titel, der bei einem Bewohner eines heißen Landes noch verständlich wäre, weniger beim Engländer Scarlett. With a Chance of Rain. Zu Beginn kann man meinen, das Stück handle von Regen, vielleicht von der Erleichterung nach langer Hitze, von Abkühlen im konkreten oder übertragenen Sinn, denn ein Tänzer streckt die Hand aus und schaut nach oben, ob ein Tropfen fällt. Die Geste wiederholt sich am Ende. Doch die tänzerischen Passagen, die zwischen diesen beiden Gesten liegen, haben mit Niederschlag nichts zu tun, auch nicht im übertragenen Sinn mit Entspannung (nach einer Gewitterschwüle) oder Abkühlung. Sie handeln von nichts Geringerem als der Beziehung zwischen Musik und tänzerischer Bewegung. Die allerdings ist fulminant.
Broken Fall, J. Zhang, J. Cook, J. Kakareka © W. Hösl
Eine Art Muster lässt sich auch bei Russell Maliphants Broken Fall ausmachen. Es ist der titelgebende Sturz, der aber, wie das „broken“ nahelegt, gebremst, unterbrochen wird. Die Choreographie besteht tatsächlich über weite Strecken aus waghalsigen Situationen, in die sich die Tänzerin – man möchte fast sagen – mutwillig bringt. Sie lässt sich nach hinten fallen, steigt auf die Körper ihrer beiden Kollegen, scheint abzukippen. Maliphant hat eine rasante Abfolge von Hebungen, Würfen und Fallbewegungen choreographiert. Die Tänzerin – faszinierend virtuos und ausdrucksstark Jeanette Kakareka – scheint ständig ihr Leben aufs Spiel zu setzen, wenn sie sich rückwärts fallen, raketenschnell von zwei Tänzern in die Höhe katapultieren oder in die Luft werfen lässt. Und sie kann das, und hier kommt in das rasante abstrakte Bewegungsspiel die inhaltliche Komponente, weil sie sich sicher ist, dass stets eine stützende Hand, ein auffangender Arm bereit ist.
Was aber auf den ersten Blick wie ein geradezu artistisch-akrobatisches Treiben anmutet, erzählt zugleich auch eine Geschichte. Es ist die Geschichte einer Frau zwischen zwei Männern. Mal wendet sie sich dem einen zu, mal dem anderen, mal wird sie von beiden umworben. Man fühlt sich an François Truffauts Meisterfilm Jules et Jim erinnert. Und es steckt noch mehr darin. Letztlich handelt dieses Stück von Vertrauen. Es ist bei aller Sportlichkeit ein hochgradig poetisches Stück, dessen Bewegungsphantasie keine Grenzen zu kennen scheint, dessen Dramaturgie perfekt ist: ein Meisterwerk.
Nur ist hier das Paradigmatische am wenigsten erkennbar, und letztlich demonstriert der Abend weniger das Musterhafte, Gesetzmäßige, als vielmehr das Solitäre: einzigartige künstlerische Kreationen, von denen vor allem Maliphants Broken Fall auf Dauer in Erinnerung bleiben dürfte.
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