Wie alle Institutionen, die mit Musik an die Öffentlichkeit treten, ist auch der Internationalen Bachakademie Stuttgart ein coronabedingtes Schweigen auferlegt. Das trifft diese von Helmuth Rilling 1981 gegründete und seit 2013 von Hans-Christoph Rademann geleitete Akademie doppelt, denn sie ist ja nicht nur Musikveranstalterin, die neben dem Musikfest Stuttgart eine Vielzahl von Konzerten organisiert, sie ist als Akademie auch für die wissenschaftliche Vermittlung der Musik zuständig, etwa in den alljährlichen Bachwochen, die ein Thema mit Seminaren, Vorträgen und Konzerten abhandeln wie beispielsweise das Verhältnis Bach-Telemann oder einzelne Werke wie Bachs h-Moll-Messe. Jetzt tritt die Akademie mit einem neuen Angebot auf: Im Gespräch mit dem Dramaturgen der Akademie Henning Bey stellt Hans-Christoph Rademann in Podcasts, die im Internet abrufbar sind, eine neue Form der Gesprächskonzerte vor.
Hans-Christoph Rademann (links) und Henning Bey bei der Podcast-Aufnahme. Foto: Holger Schneider
Ruhig, aber hochkonzentriert sitzen sie in zwei Sesseln gegenüber und reden – über Musik, worüber sonst. Die erste Folge ist Händels Messias gewidmet – vielleicht ungewöhnlich für eine Bachakademie, doch schon bald kommt im Gespräch auch Bach vor, und sei es, um die Unterschiede zwischen diesen beiden Barockgiganten herauszuarbeiten, denn Händels Oratorien sind im Gegensatz etwa zu Bachs Passionen oder auch dessen Weihnachtsoratorium geradezu konzertante Opern mit dramatischer Handlung. Der Messias allerdings stellt mit seiner eher epischen Anlage, die das Wirken des Messias von der Geburt bis Pfingsten begleitet, eine Ausnahme dar.
Mit geradezu unnachahmlicher Anschaulichkeit erfährt man da das enge Zusammenwirken von musikalischen Prozessen und Text. Rademann macht deutlich, wie einfache Tonfolgen symbolische Bedeutung erhalten können, etwa die von oben nach unten verlaufende Melodie des Chors „For unto us a child is born“, die geradezu die Bewegung des „unto us“ plastisch nachvollziehbar macht.
Ähnlich anschaulich und für jeden nachvollziehbar die Analyse der Musik von Heinrich Schütz in der zweiten Folge, der deutlich weniger populär und daher auch weniger bekannt ist als Händel. Dessen während des 30-jährigen Kriegs entstandene Geistliche Konzerte werden sowohl vor dem kriegerischen Hintergrund beleuchtet als auch musikhistorisch in ihrer Verbindung zu Claudio Monteverdi interpretiert. Rademann zeigt auf, wie Musik geradezu an ein Lachen gemahnen kann, das eine im Text angedeutete Flüchtigkeit des Lebens verdeutlicht – auch hier musikalische Symbolik in melodischem oder harmonischem musikalischen Gewand.
Dass nach Schütz Monteverdi auf dem Plan stand, ist daher nur folgerichtig, denn Schütz hatte sich mehrfach bewundernd über den Italiener geäußert, in dessen Fußstapfen er mit seinen Geistlichen Konzerten wandelte. Hier arbeiten Rademann und Bey die Neuartigkeit der monteverdischen Musik heraus, das Erregte seiner Madrigale. Dabei ist geradezu aufregend zu verfolgen, wie vor allem Rademann Musik nachvollziehbar verständlich zu machen weiß, wie komplexe musikalische Zusammenhänge in einer klaren alltäglichen Sprache verdeutlicht werden können.
Freilich gibt es auch Wermutstropfen in diesen Lehrstunden. Da die musikalischen Beispiele bei Händels Messias nur akustisch von Rademanns CD-Einspielung eingeblendet werden, sieht man minutenlang lediglich jeweils die erste Seite der Noten.
Monteverdi, Arianna-Aufnahme, Johanneskirche. Foto: Holger Schneider
Bei Schütz und Monteverdi geht es ungleich lebendiger zu, denn hier hatte Rademann in einer Kirche die Beispielstücke eigens vor Kamera musiziert. Nachteil hier ist, dass bei Schütz meist gleich zwei der kurzen Stücke im Gespräch analysiert werden, was zur Folge hat, dass man beim Hören des zweiten Stücks meist schon vergessen hat, was darüber gesagt worden war. Noch problematischer ist das bei Monteverdi, von dem nur zwei relativ lange Stücke präsentiert werden, denen entsprechend lange Gesprächspartien vorangehen.
Doch offenbar haben sich die beiden Gesprächspartner im Verlauf der Monate, in denen diese Podcasts entstanden, Gedanken über das Medium gemacht. Mustergültig werden bei der Folge über die Choräle von Bach diese Schwächen der vorangegangenen Folgen vermieden. Bei Händel Schütz und Monteverdi neigen die beiden Spezialisten dazu, alle Aspekte der jeweiligen Musikbeispiele in ihrer Exegese aufzuzeigen, bei den Chorälen beschränken sie sich pro Beispiel auf wenige für ihre Aussage und Diskussion relevante Aspekte; das erleichtert es, in der anschließenden Musikdarbietung diese in der Komposition nachzuvollziehen, nicht zuletzt auch deshalb, weil immer wieder einzelne Details – etwa einzelne Stimmen der mehrstimmigen Choräle – musiziert werden. So kann man geradezu in die Werkstatt des Komponisten Einblick nehmen. Das gilt auch für das Weihnachtsoratorium. Hier werden zwar auch wie beim Messias Musikbeispiele aus einer CD-Aufnahme eingeblendet, doch nun wird parallel zur Musik die Partitur umgeblättert, man kann mitlesen, auch wenn man sich überlegen sollte, dass ein moderner gedruckter Notentext für den in Bachs Handschrift ungeübten Zuschauer leichter zu lesen wäre.
So kann man, wenn man die Podcasts chronologisch in der Reihenfolge ihrer Entstehung ansieht, neben den erhellenden und spannenden Analysen auch nachvollziehen, wie die Bachakademie ein für sie völlig neues Medium erobert und dann nach und nach in einem aufregenden Lernprozess zu idealer Form entwickelt hat. Und auch die kritischen Anmerkungen zu den ersten drei Podcasts wiegen gering angesichts der Wissensfülle und Erkenntnisdichte, die diese Gespräche vermitteln, und zwar in einer geradezu alltäglichen Lehrhaftigkeit, die ohne musiktheoretische Spezialdiktion auskommt, sondern vor allem bei Rademann Musik in unserer Alltagssprache darstellt und immer auch im Leben eines jeden von uns verankert. So erlebt man, dass auch komplexe Musik nicht dem Alltag enthoben ist, sondern aus unserer Alltagsrealität und -erfahrung erlebbar sein und verstanden werden kann.
Wir warten ungeduldig auf nächste Folgen.