Die falsche Haltung ist bei Molière in der Regel schnell zu erkennen: Geiz, Hypochondrie oder der Wunsch, vornehmer zu wirken, als man ist – Molière ist ein Meister in der Bloßlegung grundlegender menschlicher Schwächen. Nicht so bei seinem 1666 entstandenen Menschenfeind. Hier ist die von höflicher Schmeichelei und Speichelleckerei geprägte vornehme Gesellschaft ebenso Gegenstand der Kritik wie der Menschenfeind Alceste, der stur absolute Wahrhaftigkeit über zwischenmenschliche Beziehungen setzt, wobei Alceste für seine Zeitgenossen wohl sehr viel lächerlicher wirkte als auf die späteren Generationen, schließlich attestierte ihm bereits Goethe eine gewisse Tragik. Für das Schauspiel Stuttgart entdeckte Wolfgang Michalek eine ganz neue Dimension.
Zunächst meint man, im falschen Stück zu sein, nicht nur, weil es nicht im Theaterraum aufgeführt wird, sondern im Theaterfoyer, weil das Theater wieder einmal saniert werden muss. Doch hier tritt zunächst nicht Alceste auf, der seinem Freund Vorwürfe macht, er gehe zu weit mit seiner verlogenen Höflichkeit, und wir müssen noch lange auf den Auftritt der Titelfigur warten. Stattdessen hat Célimène einen großen Auftritt, jene Frau, die kokett bis in jede Faser ist und paradoxerweise doch vom Ehrlichkeitsfanatiker Alceste verehrt wird. Sie bittet uns, uns vorzustellen, wir befänden uns auf einer Art Titanic, auf der Gäste, unwissend, welches Schicksal sie ereilen wird, ihre Zeit mit Tanz und Ausgelassenheit verbringen.
Zugleich aber führt uns Célimène mit dieser Vision ein in die Welt der großen Chansons, in diesem Fall die der Georgette Dee, die in Wirklichkeit ein Mann ist, weshalb in Stuttgart diese Célimène schon von Anfang an decouvriert wird als Frau, die eher den Schein liebt als das Sein. Und so tritt Birgit Unterweger in dieser Rolle denn auch im weißen Glitzerkleid mit platinblonder Perücke auf, was sie zugleich auch zu einer Marlene Dietrich macht, die ebenfalls derlei Kleider für ihre großen Auftritte liebte und aus deren Chansonschatz sie ebenfalls fleißig zitieren darf, und sie macht das grandios.
Und doch ist in Michaleks stark zusammengestrichener Menschenfeind-Version das Wesentliche vorhanden: So folgt auf den großen Chansonteil zu Beginn des Abends die zentrale Szene, in der Alceste (Christian Czeremnych) seinem Freund die Freundschaft aufkündigt (auch wenn dieser Freund von Michalek gestrichen ist und Alceste die Begebenheit nur erzählt, was gleichwohl durchaus funktioniert). Es findet sich die große Szene, in der Alceste dem Nebenbuhler Oronte sein Sonett in der Luft zerreißt. Birgit Unterweger und Lucie Emons brillieren in der von Gift strotzenden Szene zwischen Célimène und der prüden Arsinoé, die ein Auge auf Alceste geworfen hat.
Michalek hat eine Digest-Version des Molièreschen Stücks auf die Bühne gebracht, die immer wieder von Chansons unterbrochen wird, und die Auswahl der Lieder – von Friedrich Hollaender über Mischa Spoliansky bis Hugo Wiener – hätte brillanter nicht ausfallen können, denn sie kommentieren präzise die jeweilige Situation und das Seelenleben der Figuren. Wenn Célimène und Arsinoé sich angiften, ertönt das Chanson: „Wenn die beste Freundin mit der besten Freundin“, das zwar auf eine lesbisches Verhältnis der beiden Damen anspielt, aber durchaus auch Animosität andeutet. Und Arsinoé, die hier eher wie ein Mauerblümchen daherkommt, singt bezeichnenderweise einen Song der Claire Waldoff, was sie ja nun auch nicht gerade als Magnet für Männeraugen auszeichnet.
Christian Czeremnych (Alceste). Foto: Björn Klein
Leider hat Michalek der auf den Bühnen von heute immer häufiger anzutreffenden Untugend, die Figuren als dumme Jungen hinzustellen, anstatt sie sich selbst bloßstellen zu lassen, nicht widerstehen können. So ist Alceste eine Mischung aus unglücklich verliebtem, wiewohl lächerlichem shakespeareschem Malvolio und Kurt Cobain in Glitzerlook, und das Stück mit „As time goes by“ aus dem Film Casablanca enden zu lassen, macht durchaus Sinn, doch hätte es nicht so hoffnungslos übertrieben interpretiert werden dürfen.
So ist ein unterhaltsamer Abend entstanden, der durchaus subtil Molière und Chansons mischt, aber eben nicht das ist, was das Schauspiel Stuttgart verspricht: “Der Menschenfeind von Molière“, sondern eher „Von Schein und Sein. Eine Revue nach Molière“.