So deutlich wie van Gogh hat es kaum ein Künstler formuliert. Seine ganze Arbeit, so bekannte er 1888 in einem Brief an seinen Bruder Theo, baue auf den Japanern auf. Dabei wirkte sich dieses ostasiatische Vorbild auf seinen Gemälden nur in wenigen Einzelfällen besonders deutlich aus, etwa bei seiner Gestaltung von blauen Schwertlilien. Sehr viel unmittelbarer ist der Einfluss der Japaner mit ihrer Kunst der Farbholzschnitte bei französischen Künstlern wie Pierre Bonnard oder Toulouse-Lautrec ablesbar, wie derzeit eine Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart zeigt. Aber auch die Kunstzentren München und Wien blieben vom Japanfieber nicht verschont, wie jetzt das Spendhaus in Reutlingen zeigt: Alles war Von Japan inspiriert.
Martha Cunz, Niesen am Abend, 1917
Im Mittelpunkt der Ausstellung steht Martha Cunz, die sich intensiv dem Farbholzschnitt widmete – eine Künstlerin, die es wiederzuentdecken gilt, die zu ihren Lebzeiten hochgeschätzt war: Kein Geringerer als Wassili Kandinsky holte sich bei ihren Alpenlandschaften wesentliche Anregungen. Kein Wunder, denn gerade bei diesem Motiv trieb sie das, was die Künstler um 1900 bei den Japanern so faszinierte, in ganz neue Dimensionen vor: Es war vor allem der Verzicht auf die Zentralperspektive. Die Motive vereinzelten sich auf den Blättern, alles wurde der Fläche unterworfen, nicht der räumlichen Tiefe. Martha Cunz verzichtete bei diesen Arbeiten ganz auf Details, löste alles in große Farbflächen auf und erzielte doch stets den Eindruck einer Alpenlandschaft. Bei Winterszenen ließ sie nicht selten große Partien des Papiers unbedruckt, das Weiß scheint gleißend hell hervor. Das ist eindeutig „von Japan inspiriert“, aber doch zugleich ganz eigenständig.
Carl Thielemann, Grunewaldsee, 1910
Das gilt auch für andere Künstler ihrer Zeit. Bei einem 1910 entstandenen Farbholzschnitt von Carl Thielemann könnte man angesichts der bizarr gezackten schwarzen Blätter eines Laubbaums sogar meinen, er stamme aus Japan, das Bild stellt aber den Grunewaldsee dar. Emil Orlik war von der japanischen Kunst derart begeistert, dass er sie sogar in ihrer Heimat aufsuchte und die dortigen Künstler porträtierte – in einem Triptychon: den Maler – den Holzschneider – den Drucker.
Neben der Tendenz der Japaner, alles in Flächen aufzulösen, reizte die europäischen Künstler vor allem deren Vorliebe für das Ornamentale. Was die Japaner vorzugsweise am Laub der Bäume und an Blüten anwandten, übertrugen die Europäer auf die Vögel. Bei Walter Klemm löst sich das Gefieder der massigen Körper, der rote Hals und der bläuliche Kopf in lauter Farbtupfern auf, man möchte am liebsten mit der Hand über dieses flaumweich anmutende Gefieder streichen. Vor allem Schwäne eigneten sich für diese Darstellung, denn ihre langen, schmalen Hälse sind ja letztlich nichts als breite, geschwungene Linien, reines Ornament. Wenn sie sich dann noch, wie bei dem sehr schnell berühmt gewordenen Bild Drei Schwäne auf dunklem Gewässer von Otto Eckmann im Spiegelbild auf der gewellten Wasserfläche in lauter zittrige Linien auflösen, geht das Tiermotiv auf ein und demselben Bild fast schon in reine Abstraktion über – ähnlich wie die Bäume am Ufer auf einem vergleichbaren Bild von Martha Cunz.
Martha Cunz, Am Parkweiher, 1918
Bei Walter Klemm waren es nicht die japanischen Holzschnitte, sondern die chinesischen, an deren Vorbild er seine spätere Meisterschaft ausbildete. Von den Japanern lernte er deren besonderes Vorgehen, nicht wie in Europa nach der Natur zu malen, gar in der Natur, sondern aus der Erinnerung. Auf diese Weise, so schrieb er, falle alles Kleinliche, Unbedeutende ab, es bleibe das Wesentliche der Erscheinungen – wie etwa auf dem berühmten Bild der großen Welle vor Kanagawa von Katsushika Hokusai, das ebenfalls zu sehen ist: eine urgewaltige Naturerscheinung, die sich jedoch zugleich der Abstraktion nähert: Die Welle ist zu sehen, und ist doch auch Ornament, reine Kunst, wie die Alpenbilder der Martha Cunz.
„Von Japan inspiriert. Martha Cunz und der Farbholzschnitt um 1900“. Kunstmuseum Spendhaus, Reutlingen, bis 18.6.2017.