Es war verständlich, dass zumal in Deutschland nach 1945 Kunst für die meisten nur eine Zukunft in der Abstraktion finden könne, denn sie galt als Ausdruck von Freiheit, war vor allem unbelastet von der Malerei, die die Nazis zumal im Bereich der figürlichen Kunst propagierten. So war es nur konsequent, dass mit Willi Baumeister ein führender Vertreter der abstrakten Malerei zum Leiter der neu eröffneten Stuttgarter Akademie berufen wurde. Doch in einer Art Gegenströmung versammelten sich in Karlsruhe mit Erich Heckel, Wilhelm Schnarrenberger und Karl Hubbuch Vertreter einer gegenständlichen, gar figürlichen Malerei auf den Professorenposten. Eine Ausstellung in der Galerie Schlichtenmaier zeigt, dass das die Moderne keineswegs ausschloss, im Gegenteil.
Ist das noch das Bild eines Körpers? Wilhelm Loth nannte diese Arbeit von 1956 Torso, aber man braucht schon viel Fantasie, um darin den menschlichen Körper auszumachen. Zwanzig Jahre danach ging er mit seiner Verfremdung noch viel weiter. Da hat dann eine Metallplastik äußerlich die Form eines Trapezes, aber im Inneren hat Loth die Figur einer Frau herausgeschnitten, als sei der Körper in dem Metallblock bereits angelegt und nur noch freizulegen gewesen. Auf diese Weise vereinte er organisch-figürliche Kunst mit streng geometrisch-abstrakter.1958 wurde Loth Professor an der Kunstakademie Karlsruhe. Vor allem HAP Grieshaber hatte darauf gedrungen, der dort schon seit 1955 war. Das passte, denn Grieshaber war gleichfalls ein Verfechter der figürlichen Kunst. Seine Holzschnitte widmeten sich immer wieder dem Menschen: der Mutter zum Beispiel oder Ereignissen wie dem Geburtstag mit einem strahlenden Gesicht in der oberen Bildhälfte. Aber realistisch zeichnete er seine Figuren nicht, sie sind stark abstrahiert, zum Teil auch durch die Technik, den Holzschnitt. Vor allem zielen sie aufs Grundsätzliche. So wählte er Themen aus der antiken Literatur und Mythologie, dem Schutz der Natur, Frieden. Und mit diesem Zielen aufs Grundsätzliche traf er sich, wenn auch ganz anders, mit Wilhelm Loth. Der Bildhauer hatte schon früh die menschliche Figur, vor allem die weibliche, auf das Wesentliche beschränkt, auf einen üppigen Leib als Symbol der Fruchtbarkeit, auf die Brüste. Das sollte sich noch intensivieren. Oftmals kombinierte er symbolhaft die wesentlichen weiblichen Attribute wie Schoß, Brüste, Lippen. Das sind keine Abbilder des Menschen, sondern Wesensbestimmungen. Wer sich als junger Student in Karlsruhe einschrieb, der wusste also, dass er nicht auf die große Abstraktion treffen würde, die so viele junge Künstler in den 50er Jahren so faszinierte, aber er traf eben auch nicht auf eine eher altmeisterliche Tradition. Was in Karlsruhe ausgerechnet anhand der Figur entstand, war hochgradig modern – und die Schüler arbeiteten an dieser Entwicklung fleißig mit.
So sieht man vielen Arbeiten von Heinz Schanz kaum mehr an, dass die Keimidee stets die menschliche Figur war. Durch Übermalungen in Form von Liniennetzen nahm er sie immer wieder zurück, man erkennt nur gelegentlich noch Anklänge an Augen, Köpfe, Münder.
Dasselbe scheint auch bei Walter Stöhrer der Fall zu sein, auch bei ihm erkennt man Elemente der menschlichen Figur. Und doch war sein Vorgehen geradezu umgekehrt. Ging Schanz von der Figur aus und nahm sie bis zur Unkenntlichkeit zurück und überführte sie in reine Malerei, so entwickelten sich bei Stöhrer aus einer Art künstlerischem Schreiben heraus Assoziationen an Körperliches; das Gegenständliche entwickelte sich also erst Schritt für Schritt bei der Arbeit am Bild. Trotzdem sind seine Arbeiten denen des Mitstudenten nicht unähnlich. Bezeichnenderweise trägt eine den Titel: „Seine Bewegungen fielen von ihm ab“.
Dieses Hin und Her zwischen Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit zieht sich durch die ganze Ausstellung und vermittelt einen Eindruck, was damals in Karlsruhe vor sich gegangen sein mag. Selbst die Lehrer blieben von den Schülern nicht unbeeinflusst. So manches Mal meint man, ein Bild von Schanz vor sich zu haben, und steht vor einem Grieshaber, der offenbar Anregungen seines Schülers aufgegriffen hat.
Figürliches steht als Inspiration hinter allen diesen Künstlern, doch wie unterschiedlich fiel das Ergebnis aus! Elisabeth Wagner landete in ihrer Entwicklung schließlich gar bei einer fast realistischen Figurenkunst, und ist doch hochgradig künstlich in ihrem Schaffen. Sie wählte sich Figuren aus berühmten Gemälden der Kunstgeschichte und formte sie als Plastiken neu, bis hin zu einem kleinen Wolfgang Amadeus Mozart. Das Resultat: ein Spagat zwischen Tradition und moderner Konzeptkunst. Ganz anders Robert Schad. Seine Arbeiten wirken abstrakt, aber bei genauem Hinsehen entdeckt man in ihnen etwas höchst Bewegtes, fast Tänzerisches. Außerdem hat er als Gestaltungsmaterial einen Vierkantstahl entdeckt von fünfundvierzig Millimetern Stärke, der genau in seine Hand passt. So steht bei seinen Arbeiten seine eigene Figur als Urquelle, ähnlich wie bei den Schreibbildern von Walter Stöhrer durch seine Bewegungen mit dem ausgestreckten Arm seine eigene Figur und Bewegung in die Bilder eingingen.
Ganz statuarisch dagegen Franz Bernhard. Er schuf seine Plastiken aus grob behauenen und zusammengesetzten Materialien wie Holz und Stein und näherte sich der menschlichen Figur behutsam an mit eher abstrakten Formelementen. So besteht eine der faszinierendsten Arbeiten in der Ausstellung lediglich aus einem groben Steinblock. Ein kleiner Schlitz mutet, obwohl er nach innen geritzt ist, wie eine Art Nase an – und damit ist die Arbeit als Kopf definierbar, dabei aber so archaisch vereinfacht, dass sie auch aus der Frühzeit der Menschheit stammen könnte. Was man auch über die Kopffüßler von Horst Antes sagen kann. Ähnlich wie Grieshaber und Loth, die beiden Lehrer, drückte er mit seinen Figuren Grundbefindlichkeiten aus wie Sehnsucht nach Geborgenheit, Ausgeliefertsein an die Welt, Suche nach Gemeinsamkeit und zugleich Unvermögen, sich dem anderen mitzuteilen. In der Ausstellung hängt ein Bild von ihm neben besagter Kopfplastik von Bernhard und macht deutlich: Die Inspiration durch die menschliche Figur ist allen Künstlern zu eigen, aber jeder fand eine ganz eigene Bildsprache dazu, entwickelte sich in grundlegend unterschiedliche Richtungen – und hatte doch mit so manchem seiner Studienkollegen mehr gemein, als es auf den ersten Blick scheinen mochte.
„Die neue Figur. HAP Grieshaber – Wilhelm Loth. Die Lehrer und ihre Schüler“, Galerie Schlichtenmaier, Schloss Dätzingen bis 14.3.2020