Trotz gelegentlicher Modeströmungen (etwa in den 80er Jahren oder auch wieder in jüngerer Zeit) tun sich hierzulande Männer mit Handtaschen schwer. Sie verstauen ihre Börsen und Taschentücher lieber in den Hosentaschen. Doch was, wenn die Männermode nicht über solche praktischen Accessoires verfügt wie im Japan früherer Jahrhunderte? Wer damals etwas auf sich hielt – und über das nötige Kleingeld verfügte –, investierte in „Inrōs“ – kleine Behälter, die mithilfe eines Knebels (Netsuke) am Gürtel getragen wurden. Und wie so oft in der japanischen Kultur ist alles sehr klein und sehr fein.
Fische und Tintenfisch. Japan, 19. Jh. © Linden-Museum Stuttgart, Foto: Anatol Dreyer
Es gibt kaum ein Detail, das nicht auf den ersten Blick zu erkennen wäre. Ob bei der Darstellung von Fischen aller Art, Pflanzen oder Persönlichkeiten des kulturellen Lebens – die Künstler, die die Oberflächen dieser kleinen Behältnisse gestalteten, waren Meister im Umgang mit der Lacktechnik, und Lack musste es sein, denn vorzugsweise trug man in diesen Inrōs Medikamente und Tabak mit sich, und Lack hält den Inhalt solcher Döschen frisch. Der Name rührt freilich von einem anderen Verwendungszweck her: Er bedeutet „Siegelkorb“ – Aufbewahrungsort also für die zur Identifikation bei offiziellen Akten notwendigen persönlichen Siegel.
Allein die technische Brillanz dieser Objekte ist ein Fest für das Auge. Mit feinsten Strichen wurden die Bildinhalte dargestellt, was umso faszinierender ist, weil sie in den meisten Fällen mittels der Streutechnik entstanden: Auf den noch feuchten Lack, mit dem der Rohling aus Leder oder dünnem Holz grundiert war, wurden Metallpartikel (Gold, Silber) eingestreut, Schicht für Schicht. So erhielten viele dieser Bilder geradezu reliefhaltige Qualität.
Der Berg Fuji und der Sengen-Schrein.Japan, 1. Hälfte 19. Jh. © Lindenmuseum Stuttgart, Foto: Anatol Dreyer
Der Glanz der Farbschichten, die Delikatesse der Details zeugen von einer großen Kunstfertigkeit – und dem trug auch die Entwicklung dieser Kunstform Rechnung. Wurden die ersten dieser Behälter noch anonym von Handwerkern hergestellt, so entwickelte sich alsbald eine kleine Schar wahrer Lackkünstler für diese Gebilde, die denn auch mit ihrer Signatur für ihre Kunst einstanden und sich gelegentlich sogar selbst porträtierten – nicht auf dem Inrō selbst, wohl aber auf den Gebilden, mit denen die Behältnisse am Gürtel befestigt wurden – den Netsukes, Gegengewichten für die herunterhängenden Döschen.
Diese Netsukes stellten nicht selten ein inhaltliches Gegenwicht zu den eher seriösen Bildinhalten der Inrōs dar: So ist eines dieser Hängegewichte die Miniaturskulptur eines betrunkenen Hofdieners.
Aber nicht nur die künstlerische Technik fasziniert das Auge oder die delikate Bilddarstellung, sondern vor allem das Miniaturistische. Selten sind diese Döschen größer als zehn Zentimeter, bestehen dabei aus mehreren Teildöschen, die ineinander geschoben und mithilfe einer Kordel dicht verschlossen werden konnten, sodass man meint, ein einziges Döschen vor sich zu haben. Die Bilder erstrecken sich dann über alle Teilschachteln. Um alle Details würdigen zu können, sollte man unbedingt den Katalog zu Rate ziehen, er bildet die Objekte, die in der Ausstellung aufgrund der Lichtempfindlichkeit in düsterem Ambiente präsentiert werden müssen, meist von mehreren Seiten ab, nicht selten bis fast auf das Doppelte vergrößert, und das ist bei der Detailfülle der Darstellungen von großem Nutzen.
Vor allem bietet der Katalog zu jedem Objekt (der umfangreichen Sammlung, nicht nur der in der Ausstellung präsentierten Auswahl von rund fünfzig Objekten) eine ausführliche Erläuterung der dargestellten Bildwelten.
Drei Helden der chinesischen Geschichte. Japan, 19. Jh. © Lindenmuseum Stuttgart, Foto: Anatol Dreyer
So erfährt der Leser vom Symbolgehalt so mancher Motive, die für unser Auge lediglich ästhetische Qualitäten haben. So tritt beispielsweise ein Fuchs auf einem Inrō als Priester verkleidet auf; bei uns, wo dieses Tier oft als listenreich dargestellt wird, wäre das lediglich ein Täuschungstrick, in Japan aber gilt der Fuchs als mit Zauberkraft begabtes Wandelwesen, der in vielerlei Gestalt auftreten kann. Tiger finden sich oft auf den Inrōs – obwohl sie in Japan gar nicht heimisch waren und vielleicht gerade aus der Ferne als Symbol der Stärke bewundert wurden. Die Päonie gilt Japanern als Königin der Blumen und der Kranich als Symbol für Glück und ein langes Leben.
So ershließen sich in der Lektüre des Katalogs nicht nur die ästhetischen Reize dieser „Modekunst“, man taucht ein in die Vorstellungs- und Sagenwelt der Japaner zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert. Dieses Buch ist ein Kompendium einer Modeerscheinung, Mentalitätsgeschichte einer uns immer noch in vielen Details fremden Kultur und Bilderbuch höchster Güte in einem.
„Inrō. Gürtelschmuck aus Japan. The Trumpf Collection“, Lindenmuseum Stuttgart bis 29.1.2017. Katalog mit allen 253 Inrōs des Lindenmuseums. 432 Seiten, 571 Abb., 78 Euro (Ladenpreis 99.80 Euro)