Cindy Sherman schlüpfte für ihre Fotos in immer neue Kostüme und Figuren, Pipilotti Rist tanzte vor der Kamera mit nackten Brüsten, Rosemarie Trockel verwendete Materialien, die eng mit der traditionellen Rolle der Frau in der Gesellschaft assoziiert werden, und strickte Herdplatten. Wenn Künstlerinnen sich mit der Rolle der Frau im Allgemeinen und der der Künstlerin im Besonderen auseinandersetzen, geht es natürlich um Rollenbilder, aber auch um den eigenen Körper. Das gilt auch für die Österreicherin Birgit Jürgenssen, wenn sie sich etwa eine Schürze aus Blech in Form eines Küchenherdes umhängte. Und doch ist die Kunst der 2003 Verstorbenen vielschichtiger, wie eine erste umfassende Retrospektive in der Kunsthalle Tübingen zeigt.
Natürlich kann man in Birgit Jürgenssen eine aggressive Feministin sehen. Auf Zeichnungen zeigt sie die Männer als Verfügungsmasse in der Hand der Frau. Da werden sie glattgebügelt und säuberlich in einem Wäschekorb gestapelt, da wischen Frauen eifrig mit Männerkörpern den Boden, die Männer als Wisch- oder Waschlappen. Selbst zum Paarspiel werden sie nicht gebraucht. Das Match das trag ich mit mir selber aus ist eine Zeichnung betitelt, auf der eine Tennisspielerin ohne Partner den Schläger schwingt. Doch sind das alles keine selbstbewussten Emanzipationsbilder, alle enthalten einen gewaltigen Schuss Ironie. So steckt die Tennisspielerin eben in dem Gewand, das man in den 70er Jahren bei Frauen auf dem Tennisplatz noch antreffen konnte: im adretten kurzen weißen Röckchen, die schrubbenden Damen sind Putzfrauen mit Kopftuch, die Büglerin trägt eine altmodische Schürze.
Man könnte Birgit Jürgenssen auch eine emanzipatorische Feministin nennen. Immer wieder setzt sie sich mit traditionellen Rollenbildern der Frau auseinander. Auf ihrem Hausfrauenporträt ist der Frauenoberkörper zu einem karierten Küchenhandtuch mutiert.
Auf einem Foto sieht man die Künstlerin hinter einer Glasscheibe, die sie mit der Hand wegdrücken will. Auf ihrem Hals steht der Wunsch: „Ich möchte hier raus“. Aber auch solche Auseinandersetzungen mit traditionellen Rollenmustern sind nicht nur emanzipatorische Forderungen, sondern stets auch ironische, sogar heitere Kommentare zur gesellschaftlichen Realität. Die Backofentür in der Küchenherdschürze ist aufgeklappt wie der Unterleib einer Frauenfigur, darin liegt nicht ein Fötus, sondern ein Laib Brot. Wenn sie Stöckelschuhe aus einem Raubvogelkörper gestaltet, dann ist das natürlich als Kampfansage an die Männerwelt zu verstehen, aber zugleich auch ein Bekenntnis zum Stöckelschuh, der im Design ausgesprochen elegant ist.
Birgit Jürgenssen war eine Frau, die nicht in die Kampflinie der Feministinnen einzureihen ist. Die Ausstellung zeigt sie als Künstlerin, die sich im Kontext der Welt hinterfragt – und das betrifft nicht nur das Thema Weiblichkeit, es betrifft die Frage nach dem Ich ganz generell. Das fing bereits in der Kindheit an. Ein Schulheft mit ersten Zeichenübungen widmete sie ihrem damaligen Idol Picasso und überschrieb es mit dem Namen Bicasso Jürgenssen (sie wurde zuhause „Bi“ genannt). Da zeigten sich bereits zwei Charakteristika, die sich durch ihr ganzes Werk ziehen. Zum einen die Auseinandersetzung mit den Großen der Kunstgeschichte. Neben Picasso war das Man Ray, von dem sie die Technik der Rayogramme übernahm, Fotoarbeiten, die ohne Kamera entstehen und auf denen nicht selten der weibliche Körper in zahlreichen Überblendungen zu sehen ist. Und es zeigt sich im „Bicasso-Heft“ ihr Hang zum Spiel mit dem eigenen Ich. Immer wieder schlüpfte sie für ihre Fotos in Kostüme. Es scheint, als habe sie nicht nur aus dem Frauengefängnis ausbrechen wollen, sondern auch aus der Begrenzung des eigenen Ich. 1980 sprach sie einmal von der „Strategie einer die Identität schützenden Verweigerung“. Dazu diente ihr paradoxerweise das Medium der Fotografie, denn eigentlich fixiert das Foto ja das äußere Erscheinungsbild. Auf den Fotos dieser Künstlerin aber scheint genau das immer wieder verschwinden zu wollen. Und auch das findet sich schon in ganz frühen Arbeiten. Da zeichnete sie Mädchen in zahlreichen Gewändern und Posen – allesamt mit leeren Gesichtern. Das Antlitz, Spiegel des Ich, fehlt.
Als Mitglied der Gesellschaft findet sich der Mensch auf ihren Bildern immer seltener – eher als Teil der Natur allgemein. Zwar gibt es auch hier immer wieder einen Hauch Feminismus, wenn sich an einem gebeugten Frauenoberarm eben nicht ein Bizeps wölbt, sondern eine weibliche Brust – oder auch eine Ratte.
Sich selbst porträtierte sie immer wieder mit diesem Tier, nicht selten mit einem Rattenkopf auf dem eigenen, doch nicht als Mutation verstanden, sondern als Kombination, als Zwillings- oder Zwitterwesen. Immer wieder überlagerte sie auf Fotos ihren Körper mit Laub, fotografierte sich am Boden liegend vollständig mit Efeublättern bedeckt – der Mensch als unablösbarer Bestandteil eines umfassenden Naturkontextes – nicht mehr und nicht weniger als Tier oder Pflanze, vor allem relativ und endlich. „Ich bin“ steht in Kinderschreibschrift auf einer Schiefertafel – daneben hängt ein Schwamm, das Medium zur Auslöschung. So humorvoll vieles an dieser Künstlerin auch wirken mag, so liegt doch hinter allem ein tiefer, melancholischer Ernst.
„Birgit Jürgenssen. Ich bin“. Kunsthalle Tübingen bis 17.2.2019. Katalog 335 Seiten, 29.90 Euro