So radikal die Moderne den Gegenstand aus der Malerei auch entfernt haben mag – dieser Auflösungsprozess nahm eine lange Zeit in Anspruch. Die Kubisten nahmen sich für ihre formale Zerlegung die Geometrie zu Hilfe, die Expressionisten die jeglicher Natürlichkeit entgegenstehende Farbgebung, aber schon der Impressionismus läutete diesen Vorgang ein, so sehr er auch der Landschaft und dem Licht in der freien Natur noch verpflichtet war. Wilhelm Geyer schlug einen ganz eigenen Weg ein, wie jetzt eine Ausstellung in der Städtischen Galerie Böblingen belegt.
Vierflügelaltar „Das Kirchenjahr“. Advent – Verkündigung, 1925/26
Gemälde mit religiösen Motiven, gar ganze Altarbilder erwartet man eher von einem reiferen Künstler und auch nicht unbedingt im 20. Jahrhundert. Doch bei Wilhelm Geyer war vieles etwas anders. Er widmete sich intensiv der Bibel, da war er Mitte zwanzig und noch Student an der Stuttgarter Akademie. Doch wie er das tat, war in höchstem Grad neu und aufregend. Gewiss: Man erkennt die Figuren, man kann die Handlungen identifizieren. In Geyers Apostelaltar zum Beispiel stehen links einige Apostel, in der Mitte hängt der Gekreuzigte und links findet sich die Kreuzigung Petri – eine Szene, die selten dargestellt wird. Geyer schuf ganz eigene Bilder zur Bibel. Das wird am deutlichsten in seinem Kirchenjahrsaltar – gewidmet den großen Kirchenjahrsfesten: Advent, Weihnachten, Ostern und Pfingsten. In geschlossenem Zustand sieht man den Beginn des Geschehens: die Verkündigung – rechts den Engel der Verkündigung, links Maria. Man erkennt zwar nicht viel, der Pinselduktus hat alles in einzelne Farbtupfer zerlegt, aber Geyer hielt sich streng an die liturgischen Farben, und so steht Blau für Maria. Und inmitten eines wahren Farbstrudels erkennt man sogar einen weiteren konkreten Hinweis darauf, dass es sich um die Verkündigungsszene handelt: Geyer fügte die Buchstaben „AVE“ ein – jenen Gruß, mit dem sich der Engel in der lateinischen Bibelübersetzung an Maria wendet. Es ist ein Vierflügelaltar in traditioneller Manier, der ganz aufgeklappt im Inneren die Dreifaltigkeit zeigt.
Traditionelle Formen und Motive also, aber in einer ganz neuen Art gemalt. Wie in Trance scheint hier ein Künstler mit Farbe und Pinsel vorgegangen zu sein. Die Farbe ist in mal großen, mal kleinen Flecken auf die Leinwand aufgetragen, scheinbar planlos, willkürlich, doch erkennt man bei genauer Analyse durchaus eine präzise Pinselführung. Aus der Nähe betrachtet hat man eine vollkommen abstrakte Farbsymphonie vor Augen, erst aus einiger Distanz werden Figuren erkennbar. Und so exaltiert wie die Malweise wirken auch die Gestalten. Schon Geyers Zeitgenossen fanden für diesen Malstil den Begriff „ekstatisch“, und Freunde berichteten, dass Geyer, wenn er malte, vollkommen in den Malakt versunken war, nichts mehr um sich herum wahrnahm.
Dabei hatte er durchaus akademisch begonnen. Frühe Gemälde zeigen deutlich den Einfluss seines Lehrers Christian Landenberger mit der etwas gedeckten Farbpalette. Der Pinselstrich ist aufgelockert. Hier erkennt man den Einfluss eines Cézanne, der für viele Maler des frühen 20. Jahrhunderts den Aufbruch in die Moderne bedeutete. Doch neben diesen farblich eher verhaltenen Bildern entstand auch ein Porträt von Geyers Atelier, und da kann man nur noch mit einiger Fantasie Gegenstände erkennen wie ein Fenster oder einen Stuhl. Ansonsten ist das Farbe pur.
Selbstbildnis, 1923
Diese Gratwanderung zwischen abstrakter Farbgestaltung und gegenständlicher Ahnung findet sich von da an allenthalben, sogar bei einem Selbstporträt – bezeichnenderweise bei seinem frühesten am ausgeprägtesten. Hier hatte ein junger Maler bereits seinen Stil gefunden bzw. entwickelt. Neben Cézanne stand der späte Lovis Corinth Pate, der den Dingen ja auch gewissermaßen die Haut abgezogen hat und das Innere zutage förderte. Geyer selbst gestand eine gewisse Duplizität ein, ging aber noch einen Schritt weiter als Corinth. Das kann man als expressiv bezeichnen, doch ist der Begriff zu schwach – und bezeichnenderweise waren die Expressionisten den Künstlern rund um Geyer nicht expressionistisch genug.
Bei Geyer findet sich aber noch weitere eine Einflusslinie: In seinen lichten Garten- und Landschaftsbildern erkennt man den Impressionismus.
Abend im Garten, 1936
Er schuf eine Synthese aus expressionistisch geprägter Malerei und impressionistischer Farbempfindung. So wird auf seinen besten Gemälden alles zur reinen Farbe. Der Gegenstand war ihm stets wichtig, doch hat man den Eindruck, er diente nur als Anlass, um in Farbe schwelgen, um alles in Farbe auflösen zu können. So finden sich natürlich Anklänge an Blumen und Stauden, doch alles aus der Farbe heraus.
In einer Landschaft windet sich ein Fluss durch die Wiesen und Berge hindurch, sogar eine Eisenbahn kann man ausmachen, doch Landschaftsmalerei im traditionellen Sinn ist das nicht mehr. Dass er in seinen Zeichnungen diese Tiefe nicht erreichte, ist geradezu selbstverständlich. Die Linie spielt in dieser Kunst keine Rolle, die Farbe muss aus sich heraus wirken. Es ist malerische Malerei im besten Sinne des Wortes. Geyer zeigt, dass moderne Malerei nichts anderes als Farbgeschehen ist – bis hin zur Auslöschung des Gegenstandes, aber eben nur „bis hin“.
„In Ekstase. Wilhelm Geyer und sein malerisches Werk“. Städtische Galerie Böblingen bis 7. Oktober 2018, danach Galerie Fähre in Bad Saulgau. Katalog 86 Seiten, 19,90 Euro