Malen als Schöpfungsakt. Fred Thieler

Es gibt Künstler, die man auf den ersten Blick einer Stilrichtung zuordnen kann. Dazu zählt gewiss Fred Thieler. Mit seinen Farbimpressionen und -landschaften, die wie zufällig auf Leinwand und Papier entstanden zu sein scheinen, ist er ein Musterbeispiel für die Richtung, die als „Informel“ in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts die Kunstentwicklung prägte und für deren Charakterisierung sich Begriffe wie “Formlosigkeit“ und „uneingeschränkte Spontaneität“ eingebürgert haben. Beide treffen auch auf die Gemälde von Fred Thieler zu – und doch, wie eine Ausstellung in der Galerie Schlichtenmaier deutlich macht, beileibe nicht nur.

 

Wie zufällig ballt sich die Farbe zu Flecken zusammen, die an den Rändern her auslaufen; von Gesetzmäßigkeit keine Spur – und doch ist bereits in Thielers frühen Arbeiten auch keine Spur von Beliebigkeit, im Gegenteil. Das liegt nicht zuletzt an seiner eingeschränkten Farbpalette. Mit Ausnahme eines einzigen Bildes, auf dem von Blau über Weiß, Rot und Pink nahezu jede Farbschattierung vertreten ist, konzentriert sich Thieler auf wenige Farbakzente, meist Blau, Schwarz und Rot – und zu Beginn seiner Laufbahn Grau.

Dem Eindruck einer uneingeschränkten Spontaneität wirkt auch die Tatsache entgegen, dass er auf diesen frühen Arbeiten mit dem Pinselstiel Linien in das Farbgeflecht eingeritzt hat. Das Resultat sind – bei aller Freiheit im Umgang mit der Farbe – geradezu kristalline Strukturen, als sei ihm der Blick durch das Mikroskop wichtiger gewesen als der freie Ausdruck seiner malerischen Möglichkeiten. So beginnt Thieler bereits mit einer Quadratur des Kreises: Freiheit im Umgang mit der Farbe, aber zugleich Struktur in der endgültigen Farbkomposition.

Dabei war sein Vorgehen dem Farbtröpfeln eines Jackson Pollock nicht unähnlich, dessen dünne Linien auf der Leinwand einzig dem Prinzip Zufall zu gehorchen scheinen, nur dass Thieler nicht dünne Farbstrahlen aus einem kleinen Loch am Boden seiner Farbdosen tropfen ließ, sondern aus einer Gießkanne die Farbe ungleich freier und dicker auf die am Boden liegende Leinwand goss.

Anfangs entsprach das noch ganz dem, was man unter informeller Malerei verstand, doch bald schon spürte Thieler ein Unbehagen an der ungebremsten Freiheit. Zwar blieb er dabei, die Farbe auf die Leinwand fließen zu lassen, doch setzte er dem freien Farbfluss Hemmnisse entgegen, klebte gefaltete Stofffetzen auf die Leinwand. So konnte sich die Farbe an manchen Stellen konzentrieren zu leuchtendem Rot, tiefem Blau, an anderen Stellen dagegen auslaufen und tiefer liegenden Farbschichten Raum gewähren. So entstanden Bilder von unfassbarer Tiefe, als deren hinterster Grund nicht selten strahlendes Weiß aufscheint.

Immer wieder experimentierte Thieler mit dem Ausfasern von Farbe, indem er sie nur noch in einem feinen Sprühnebel auf seine Bildflächen auftrug. So erweckte er den Eindruck, als seien diese Bilder weniger gemacht als vielmehr „geworden“, man meint, einem Schöpfungsakt ex nihilo beizuwohnen, wenn man die Bilder mit den Augen abtastet. Thielers Bilder wirken nicht bewusst gemalt, sondern als Inbegriff eines „es werde“. Sie entstehen stets im Dialog mit dem, was Thieler auf der Leinwand hat geschehen lassen, und was das Auge in einem nachschöpferischen Akt daraus entwickelt. Jede Betrachtung dieser Bilder ist ein neuer, einzigartiger Prozess – und dadurch sind sie, wiewohl einer historischen Stilrichtung verpflichtet, zeitlos.

Fred Thieler. Zum 100. Geburtstag“. Galerie Schlichtenmaier, Kleiner Schlossplatz, Stuttgart bis 23.4.2016

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